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Die Grosse Glocke im Berner Münster ist eine Wucht. Sie heisst Susanne, ist fast zehn Tonnen schwer und kann wunderschön singen. Sie ist die mächtigste Glocke der Schweiz, einem Land, in dem es wirklich nicht an Glocken mangelt.
Wenn man die Schweiz auf der Landkarte mit zugekniffenen Augen anschaut – sieht sie dann nicht aus wie die kleine Glocke einer Hotelrezeption? Oben beim Kanton Schaffhausen drückt man auf den Knopf und dann klingelt es?
Dieser Vergleich ist womöglich gar nicht so unpassend. Denn die Schweiz ist ein regelrechtes Bimbam-Land. Wo man hinhört: Glocken, Glocken, Glocken. Tausende in den Türmen der Kathedralen, Kirchen und Kapellen. Abertausende an den Hälsen von Kühen, Schafen und Ziegen.
Als ob das nicht schon Gebimmel genug wäre: Sogar die Menschen selbst tragen Glocken vor sich her. Wie die «Trychlergruppen», die an Umzügen teilnehmen – und in jüngster Zeit auch in der Politik scheppernd den Ton angeben wollen. Oder wie der Schellen-Ursli aus dem Bilderbuch von Selina Chönz und Alois Carigiet: Am Chalandamarz, einem Frühlingsbrauch im Kanton Graubünden, will Ursli um jeden Preis die grösste Treichel haben.
Fürwahr: Das Prinzip Glocke hat sich durchgesetzt. Aber was macht Glocken so besonders? Warum hängen nicht Metallplatten in den Kirchen? Einer, der das weiss, ist Matthias Walter. Der 46-jährige Architekturhistoriker aus Bern zählt schweizweit zu den gefragtesten Glockenexperten.
«Schlagen Sie einmal mit einem Hammer an einen Öltank», sagt er. «Sie hören bloss ein Wummern und Scheppern – das ist der Unterschied.» Walter steht in der unteren Glockenstube des Berner Münsters. Es ist der perfekte Ort, um über Glocken zu sprechen.
Über ihm hängt die grösste Glocke der Schweiz. Sie ist 413 Jahre alt, fast zehn Tonnen schwer, auf den Ton E gestimmt und heisst schlicht Grosse Glocke oder auch Susanne. Walter schlägt mit der flachen Hand an die Aussenwand. Man hört das Klatschen und dann – ganz leise – einen schönen Ton: «Mit einer Metallplatte geht das nicht.»
Auch mit Treicheln nicht, die aus Blech geschmiedet sind. «Sie erzeugen zwar einen Ton, aber man kann nicht von Musik sprechen», sagt er. Kirchenglocken dagegen werden gegossen. Sie bestehen meist aus Bronze, einer Mischung aus Kupfer und Zinn. «Glocken können singen.»
Das Prinzip der Glocke ist seit Urzeiten bekannt. Aber erst im Mittelalter kamen die Giesser auf die klassische Form mit der Verdickung am unteren Rand. Sie sei entscheidend, um einen einzelnen, gut wahrnehmbaren Schlagton zu bekommen, sagt Matthias Walter.
In Tat und Wahrheit erzeugt eine Glocke etwa 30 weitere Töne, die zum Teil kaum hörbar sind. Vorab in den hohen Lagen gibt es Dissonanzen. Diese wiederum seien der Grund für den charakteristischen Klang. «Trotz aller Reibungen können Glocken wunderschön klingen», sagt er. So wie die Grosse Glocke. Sie habe eine eher samtige Klangfarbe und dröhne nicht. «Sie klingt edel und ruhig.» Susanne läutet jeden Sonntag mit anderen Glocken zusammen den Gottesdienst ein. An hohen Feiertagen ist sie ganz allein zu hören. Das sei kein Schlagen mehr, schwärmt der Experte, «es ist ein fortdauernder Gesang».
Im Münster hängen sieben Glocken, drei in der unteren Glockenstube, vier in der oberen. Es gibt zahlreiche Kombinationen, wie sie geläutet werden können. Nur einmal im Jahr erklingen alle gemeinsam: vor dem Gottesdienst am 1. Advent.
Was für die einzelne Glocke gilt, gilt auch für das Geläute als Ganzes. Reibungen sind unvermeidlich. Die Giesser kannten zwar einige Gesetzmässigkeiten: Wie sich etwa Durchmesser oder Wandstärke der Glocken auf die Tonhöhe auswirken. Das sei gleich wie bei Weingläsern, erklärt Walter: «Je grösser und je dünner sie sind, desto tiefer klingen sie.» Oft sei es aber nicht exakt so herausgekommen, wie die Giesser es sich vorgestellt hatten, sagt er. Es gebe Kirchen, deren Glocken nicht gut zusammenpassen. «Trotzdem kann ein Wohlklang entstehen.»Die sieben Glocken des Berner Münsters seien «relativ rein gestimmt». Sie vereinigen sich für Matthias Walter «zu einem der grössten und historisch bedeutsamsten Geläute Europas». Die Grosse Glocke sei «ein wahres Prachtstück von weltweitem Rang».
Gross, grösser, am grössten. Ging es all den Bischöfen und Kirchenfürsten nicht genau gleich wie dem Schellen-Ursli? Wollten nicht alle die grössten Glocken haben? Walter nickt und lacht. Gerade Bern, das nie Bischofssitz war, habe mit dem Münster und dem prächtigen Geläut «eindrücklich zeigen können, wer man ist».
Technisch wäre es kein Problem, noch grössere Glocken zu giessen, was da und dort auch gemacht wurde. «Aber es ergibt eigentlich keinen Sinn», sagt er. Weil riesenhafte Glocken ebenfalls hohe Töne erzeugen und der Mensch die ganz tiefen gar nicht richtig hören kann, «wirken solche Ungetüme nicht mehr gut».
Etwas fällt im Laufe des Gesprächs auf. Matthias Walter nennt die Grosse Glocke nie Susanne. Dieser Name sei erst vor ein paar Jahrzehnten aufgekommen, sagt er. Offenbar stamme der Kosename von einem Glöckner, weil es für ihn ebenso schwierig gewesen sei, seine Frau Susanne beim Tanz zu führen wie die Grosse Glocke zu läuten.
In der aufgezeichneten Aufnahme des Geläuts des Berner Münsters setzen die verschiedenen Glocken eine nach der anderen ein. Die Einsätze nach Sekunden:
0' Silberglocke
4' Betglocke
9' Armsünderglocke
12' Predigtglocke
17' Mittagsglocke
22' Grosse Glocke / Susanne
Der Einsatz der Grossen Glocke scheint übrigens kaum hörbar: Ihr Bass fügt sich so harmonisch ins Gesamtgeläut ein, dass die Glocke – ihrer Mächtigkeit zum Trotz – ganz unauffällig bleibt.
Die Susanne mit Muskelkraft in Schwung zu setzen, war in der Tat nicht leicht. Acht Glöckner waren nötig. Die Positionen, an denen sie in der Glockenstube standen und an den Seilen zogen, sind noch erkennbar. Seit 1944 haben die Münsterglocken elektrische Antriebe.
Matthias Walter weiss auf jede Frage eine Antwort. Er erklärt, wie die riesigen Kräfte, die beim Schwingen der Glocken entstehen, über mächtige Holzbalken senkrecht nach unten abgelenkt werden und daher kein Problem darstellen. Gefährlicher sei es, sagt er, wenn die Frequenz einer Glocke mit der Eigenschwingung des Turms übereinstimme. «Das kann sich aufschaukeln – wie wenn Menschen im Gleichschritt über eine Brücke gehen.» Diesbezüglich sei beim Münster «lustigerweise» die zweitkleinste Glocke die «gefährlichste».
Glockenexperte Walter teilt sein Wissen oft mit Kirchgemeinden, wenn sie ein Problem mit einer einzelnen Glocke oder dem ganzen Geläut haben. Beim Münster hat er vor über zwanzig Jahren vorgeschlagen, die sogenannte Armsünderglocke auch wieder «solistisch zu Wort kommen zu lassen». Das war umstritten, weil sie ursprünglich die Henkersglocke war, die dann geläutet wurde, wenn jemand zur Hinrichtung geführt wurde. Zwischen 1735 und 1861 war das 65 Mal der Fall. Heute läutet sie den Abend ein.
Walter kann auch helfen, wenn es Konflikte mit Nachbarn zu lösen gilt. Dafür hat er Glockenklöppel entwickelt, die in der Bewegungsrichtung beidseitig ausgedehnt sind. Sie kommen dadurch mit weniger Schwung aus, was die Lautstärke etwa halbiert. Ein anderer Effekt dieser Klöppel ist erstaunlich: Glocken, welche zuvor schrille Obertöne aufwiesen und zu schreien schienen, singen plötzlich – wie es Susanne im Münster schon seit jeher tut. Matthias Walter ist nicht nur ein Glockenkenner, er ist auch ein Glockenbändiger.
Jeden Samstagabend um 17.20 Uhr läuten am Schweizer Radio SRF Kirchenglocken den Sonntag ein. Die Sendung «Glocken der Heimat» ist ein Klassiker. Die Sammlung von über 300 Geläuten wird seit einigen Jahren aber nicht mehr erweitert.
«Glocken der Heimat» habe immer noch ein Publikum, sagt der Glockenexperte Matthias Walter, der zahlreiche Aufnahmen beigesteuert hat. Inzwischen seien viele Geläute aber auch auf anderen Kanälen wie YouTube zu finden.
Auf der SRF-Website können die Aufnahmen von 300 ausgewählten Geläuten abgespielt werden. Zusätzlich finden sich geschichtliche Angaben und technische Details zu den Glocken.
Kommentare
Kommentare :
Als ein RÜETSCHI schlucke ich alles über Glocken. Vielen Dank für einen interessanten Artikel.