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  • Reportage

Schweizer Meister im Wählen und Abstimmen

20.10.2023 – SUSANNE WENGER

Der Kanton Schaffhausen weist konstant die höchste Beteiligung an nationalen Urnengängen auf. Er ist auch der einzige Kanton mit einer gesetzlichen Stimm- und Wahlpflicht. Doch daran liegt es nicht allein, ist man im nördlichsten Zipfel des Landes überzeugt.

Höher, weiter, schneller, schöner? Auf derSuche nach den etwas anderen SchweizerRekorden. Heute: Die fleissigsten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger.

Kurz bevor der Zug in die Kantonshauptstadt Schaffhausen einfährt, ist er durchs Fenster zu sehen: der imposante, der schöne Rheinfall. Enorme Wassermassen fallen über Felsen. Für dieses Naturschauspiel, ein Denkmal von nationaler Bedeutung, ist Schaffhausen berühmt. Deutlich weniger bekannt ist eine andere herausragende Eigenheit des 86 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Kantons: Nirgendwo sonst gehen so viele Bürgerinnen und Bürger an die Urne. Schaffhausen verzeichnet bei nationalen Urnengängen systematisch eine um 15 bis 20 Prozentpunkte höhere Beteiligung als im Landesdurchschnitt.

An den drei eidgenössischen Abstimmungen des Jahres 2022 etwa nahmen im Schnitt 66 Prozent der Schaffhauser Stimmberechtigten teil. Über die ganze Schweiz gesehen waren es magere 45 Prozent. An den Nationalratswahlen 2019 beteiligten sich in Schaffhausen 60 Prozent, während der landesweite Durchschnitt nur 45 Prozent erreichte. Im Oktober, wenn diese Ausgabe der «Schweizer Revue» erscheint, wählt die Schweiz erneut ihr Parlament. Wiederum dürften sie im Nordostschweizer Kanton in Scharen den Wahlzettel einlegen. Warum ist unter den 26 Ständen gerade Schaffhausen der Partizipationschampion?

«In unserer DNA»

Auf der Suche nach Erklärungen begeben wir uns in die pittoresk historische Schaffhauser Altstadt. Hier, im Regierungsgebäude, arbeitet Christian Ritzmann, stellvertretender Staatsschreiber des Kantons Schaffhausen und mitverantwortlich für die Durchführung der Urnengänge. Er sagt: «Abzustimmen und zu wählen ist in Schaffhausen tief verwurzelt. Es ist in unserer DNA.» Allerdings wird dem Bürgersinn nachgeholfen. Schaffhausen kennt seit fast 150 Jahren eine Stimm- und Wahlpflicht. Seit den Anfängen des Bundesstaats gab es diese Pflicht auch in anderen Kantonen, doch einzig Schaffhausen hat sie bis heute beibehalten.

Die Säumigen werden sanktioniert, wenn auch milde. Wer einen Urnengang verpasst, muss der Gemeinde sechs Franken Busse entrichten. Ausser man hat eine gute Entschuldigung, darunter gemäss Wahlgesetz Ferien, Berufspflichten und Krankheit. Auch wer die unausgefüllten Stimmunterlagen innerhalb von drei Tagen nach der Abstimmung oder Wahl retourniert, erhält keine Busse aufgebrummt. Das Obligatorium sei dadurch stark aufgeweicht, hält Ritzmann fest: «Es ist eine Bürgerpflicht, kein Stimmzwang.»

Kleinräumigkeit und Grenznähe

Das Stimm- und Wahlgebot – es gilt nicht für über 65-Jährige und auch nicht für im Ausland lebende Schaffhauserinnen und Schaffhauser – scheint breit akzeptiert. Eine Volksinitiative zur Abschaffung scheiterte vor vierzig Jahren an der Urne. Die Bevölkerung betrachte die Stimmpflicht als «Schaffhauser Spezialität», sagt Ritzmann. Sie sei damit einverstanden, weil hier seit jeher intensiv politisiert werde. Das hänge mit der Kleinräumigkeit des Kantons und der Nähe zwischen Bevölkerung und politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern zusammen: «Hier trifft man sich in der Fussgängerzone, im Bus oder im Restaurant.»

Der langjährige Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann sagt auf Anfrage, die «eher symbolische» Busse möge zwar bei der hohen Stimmbeteiligung eine Rolle spielen: «Wer zahlt dem Staat schon gerne mehr als unbedingt erforderlich?» Ausschlaggebend ist aber auch für ihn das politische Bewusstsein, und dieses rühre unter anderem von der Grenznähe Schaffhausens zu Deutschland her. Besonders vor und während dem Zweiten Weltkrieg habe es Spannungen gegeben: «Das bewegte die Menschen und motivierte sie zum Politisieren.»

Verinnerlichte Bürgerpflicht

«Wir haben eine lebendige Politik mit vielen jungen und älteren Interessierten», beobachtet auch Germanns Kontrahent im Wahlkampf, SP-Ständeratskandidat Simon Stocker. Die Stimm- und Wahlpflicht übe einen positiven Einfluss aus. Zugleich sei die Bürgerpflicht als Privileg so verinnerlicht, dass die Beteiligung wohl auch ohne Obligatorium höher wäre, glaubt Stocker. Dennoch würde er, wie viele andere, nie darauf verzichten wollen: «Die Stimmpflicht ist einmalig, sie gehört zu Schaffhausen.»

Ein paar Schritte weg vom Regierungsgebäude stehen die bunten Stände des Schaffhauser Wochenmarktes. Unter den Besucherinnen und Besuchern finden sich befürwortende und kritische Stimmen zur Stimmpflicht. «Es sollte freiwillig sein», betont eine 42-jährige Betreuungsfachfrau. Sie würde auch so zur Urne gehen. Viele machten nur mit, weil das Bussgeld sie reue, ohne echtes Interesse. Anderen, die abstimmen möchten, sei dies verwehrt, so auch Menschen mit einer geistigen Behinderung. «Ich finde die Stimmpflicht nicht schlecht», meint dagegen ein 84-jähriger ehemaliger Bahnangestellter. So könne sich hinterher niemand über das Resultat beschweren.

Christian Ritzmann ist mitverantwortlich für die Durchführung der Urnengänge. Er sagt: «Abzustimmen und zu wählen ist in Schaffhausen tief verwurzelt.» Foto SWE

Für SVP-Ständerat Hannes Germann steckt vorab politisches Bewusstsein hinter der regen Schaffhauser Stimmbeteiligung. Dieses habe historische Gründe. Foto parlament.ch

SP-Politiker Simon Stocker erachtet die Stimmpflicht als Privileg: «Sie ist einmalig, sie gehört zu Schaffhausen.» Foto ZVG

Vorbild Schaffhausen

Was steckt denn nun hinter dem Schaffhauser Stimmwunder: wahres Engagement oder der leichte Druck von oben? Experten-Einschätzungen zufolge ist es beides. Die Politologin Eveline Schwegler und der Politologe Thomas Milic fanden auf der einen Seite heraus, dass der Anteil eingelegter Leerstimmen – weder Ja noch Nein angekreuzt – in Schaffhausen höher ist als in anderen Kantonen. Das deute auf nüchterne Nutzenabwägung hin. Einige stimmen ab, um der Busse zu entgehen. Und sparen sich dabei den Aufwand, sich über die Vorlagen zu informieren. Auf der anderen Seite belegt Schaffhausen gemäss den Forschenden auch dann noch den Spitzenplatz bei der Beteiligung, wenn man die paar Prozent Leerstimmen abzieht.

Die pittoreske Schaffhauser Altstadt steht auch für die Kleinräumigkeit des Kantons. Sie schafft Nähe zwischen der Bevölkerung und den Politikerinnen und Politikern: Man trifft sich. Foto Keystone

In anderen Kantonen und auf Bundesebene gab es verschiedentlich Vorstösse, das Modell der Schaffhauser Vorzeigedemokratinnen und -demokraten zu kopieren. Denn die Klage darüber, dass sich in der Schweiz durchschnittlich nicht einmal die Hälfte des Elektorats an die Urne bemüht, ist immer wieder zu hören. Was für ein Gegensatz zu den Traumquoten im frühen 20. Jahrhundert, als 80 Prozent bei den Nationalratswahlen ihre Stimme abgaben. Einer der Gründe für die gesunkene Stimm- und Wahlbeteiligung ist, dass die Bindung an die Parteien abgenommen hat. Das schwäche deren Mobilisierungskraft, sagt der Politikwissenschaftler Daniel Kübler vom Zentrum für Demokratie Aarau.

Stimmabstinenz als Problem?

Zum Problem würde die tiefe Beteiligung, wenn die Ergebnisse nicht respektiert würden. «Doch die Resultate werden in der Schweiz gut akzeptiert, unabhängig davon, wie knapp sie ausfallen oder wie tief die Beteiligung war», weiss der Demokratieforscher. Bei den Wahlen kommt dazu, dass sie wegen des Schweizer Politiksystems weniger grossen Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung haben als in anderen Ländern. Auch dies erkläre die vergleichsweise tiefe Beteiligung, sagt Kübler. Wer nicht wähle, könne sich immer noch mehrmals jährlich an der Urne zu Sachfragen äussern.

Und da schiesst die Stimmbeteiligung auch mal locker landesweit in die Höhe, wenn eine Vorlage als wichtig empfunden wird. Rekordhalterin der letzten Jahrzehnte ist mit 79 Prozent die Abstimmung von 1992 über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum. Grundsätzlich ist eine möglichst hohe Stimm- und Wahlbeteiligung in einer Demokratie für den Politologen wünschenswert. Die Schaffhauser Stimmpflicht zeige Wirkung, habe aber Grenzen. Der wichtigste Faktor, der die Beteiligung nachweislich beeinflusst, ist laut Kübler das politische Interesse. Umso bedeutender sei die politische Bildung in der Schule: «Da ist die Schweiz im Vergleich zu den umliegenden Demokratien sehr stiefmütterlich unterwegs.»

Als der Zug Schaffhausen wieder verlässt, fällt unser Blick nochmals auf den Rheinfall. Gischt sprüht auf. Fast so erfrischend wie die stimmbürgerliche Vitalität im Randkanton.

 

Ungleich tiefer als im Kanton Schaffhausen ist die Stimmbeteiligung der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Eine Analyse des Abstimmungsverhaltens der Fünften Schweiz finden Sie hier.

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