Reportage
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Das Dorf Campo im Tessin brachte ab 1670 reiche Kaufleute hervor, die in Italien und Deutschland tätig waren. In den 1960er-Jahren zogen die verbliebenen Familien in die Ebene hinunter. Heute sind weniger als ein Zehntel der Häuser in Campo das ganze Jahr über bewohnt. Eine Reportage.
Im Postauto, das uns von Cevio nach Campo bringt, spielt ein Junge auf seinem Smartphone. In Niva, einem kleinen Tessiner Dorf im Rovanatal, steigt er aus. Er ist das einzige schulpflichtige Kind der Gemeinde Campo, die ganz am Ende des Maggiatals nördlich von Locarno liegt.
«Ich wäre gerne bereit, einen Schulbus zu finanzieren, wenn ich damit dazu beitragen könnte, dass 20 Kinder hier leben», sagt Mauro Gobbi, der Gemeindepräsident. Er zählt gerade die ständigen Einwohnerinnen und Einwohner der vier Dörfer, aus denen die Gemeinde besteht.
Heute sind es lediglich noch 35, während es in den 1950er-Jahren rund 250 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar 1000 waren. Campo weist mit 90,3 Prozent den höchsten Anteil an Zweitwohnungen in der Schweiz auf. Von den 312 Häusern werden heute nur rund 30 ganzjährig bewohnt. Wie andere Tessiner Hochtäler hat auch das Rovanatal zwischen 1860 und 1980 drei Viertel seiner Bevölkerung verloren.
Der Bus hält im auf 1300 Meter über Meer gelegenen Dorf Campo. Imposante, mit Fresken geschmückte «Palazzi» zeichnen sich im Nebel ab. In diesen Gebäuden wohnten früher reiche Familien, manchmal ohne die Männer, die ab dem Ende des 17. Jahrhunderts als Kaufleute in Italien und Deutschland zu Wohlstand kamen. Einer von ihnen war Gaspare Pedrazzini (1643 – 1724), der in Kassel (D) ein Kolonialwarengeschäft führte. In Campo, wo es auch zwei Kapellen und einen eleganten Kreuzweg gibt, wurden damals sogar französische Gärten angelegt. Die reichen Herren ritten stolz auf ihren Pferden durch den Ort.
Heute sehen wir hier alte Scheunen, die als Zweitwohnsitze dienen. Die Stimmung ist unwirklich, denn wir begegnen keiner Menschenseele. Dann stossen wir auf das Gasthaus «Fior di Campo», ein kleines Hotel für gehobene Ansprüche mit Balkonen, die den Blick auf das Rovanatal freigeben. Vincenzo Pedrazzini, der Wirt, macht auf die offene Aussicht aufmerksam. In der Ferne ist eine Gruppe von Hirschen zu entdecken, die gemächlich vorbeiziehen. Vincenzo hat das Gebäude vor zwölf Jahren gekauft, um es umzubauen.
Sein Ziel? Er wollte diese Ecke des Tessins, aus der seine Familie stammt, wiederbeleben. In Campo, ja im ganzen Tessin, steht der Nachname Pedrazzini für Erfolg und Wohlstand. «Manche betrachten mich als einflussreichen ‹Herrn›, doch in Wahrheit bin ich einfach ein Kind aus Campo», erzählt der Wirt, der früher in Zürich eine Anwaltskanzlei leitete und Vizepräsident der FDP Schweiz war.
Die «Palazzi» des Dorfes gehören grösstenteils der Familie Pedrazzini, deren Namen auch auf vielen Grabsteinen des Friedhofs von Campo eingemeisselt sind. Der Erfolg der Familie beruhe darauf, dass ein Teil der Einwohnenden von Campo grossen Wert auf die Bildung ihrer Kinder legte, sagt Vincenzo. Die meisten reichen Tessiner Kaufleute, die während der Napoleonischen Kriege in ihre Heimat zurückgekehrt waren, wanderten später für immer nach Amerika oder Australien aus. Nebst ihnen folgten Zehntausende von Tessinerinnen und Tessinern, meist von Armut geplagt, dem Ruf der Ferne.
Als Kind half Vincenzo Pedrazzini beim Heuen und beim Kühemelken: «Zwar waren wir reich, aber auch die anderen Einheimischen waren nicht arm.» Ab 2012 kaufte, renovierte und verkaufte er etwa zehn Häuser. Er hoffte damit, zumindest ein paar Menschen ins Dorf zu bringen. Jeden Sommer ziehen heute in der Tat Dutzende Tessiner Familien nach Campo. Eine willkommene Belebung des Dorfes! Etliche Frauen bleiben mit den Kindern von Juni bis August im Dorf, während die Männer zwischen ihren Arbeitsplätzen und Campo hin und her pendeln. «Wir haben hier keine ungenutzten Betten», sagt Vincenzo und kritisiert damit das vom Umweltschützer Franz Weber initiierte Gesetz, das den Anteil der Zweitwohnungen auf 20 Prozent begrenzt.
Marco und seine Frau Olga haben sich nur einen Steinwurf vom Gasthaus «Fior di Campo» entfernt niedergelassen. Sie kennen das Gasthaus sehr gut: Sie war dort Geschäftsführerin, er war der Koch. Marco sammelt alte Gegenstände aus dem Dorf. Im benachbarten Lagerhaus zeigt er uns ein Möbelstück aus dem Jahr 1770. An der Wand entdecken wir hinter Glas in zwei Bilderrahmen zahlreiche Fotos ehemaliger Einwohnerinnen und Einwohner, die Campo Anfang des 20. Jahrhunderts den Rücken kehrten, um sich in den USA niederzulassen. Olga, die in der Gegend aufgewachsen war, denkt an ihr Leben im Dorf als 20-Jährige zurück. Damals, in den frühen 1960er-Jahren, gab es in Campo noch eine Schule und die ansässigen Familien hielten Kühe. Unterdessen sind die Bauersleute längst verstorben und die Kinder sind zur Ausbildung weggezogen und haben geheiratet. Olga: «Ich habe Campo beim Sterben zugesehen. Die Türen gingen für immer zu. Nur im Sommer werden sie noch gelegentlich geöffnet.»
Während Olga für das Tal keine Zukunft sieht, unternimmt Gemeindepräsident Mauro Gobbi vieles, um das Dorf neu zu beleben – und zu sichern. Er erzählt uns auch von der «Frana», einem Erdrutsch, der Campo zu verschlingen drohte. In den 1980er- und 1990er-Jahren waren deswegen aufwendige Arbeiten zur Stabilisierung des Bodens erforderlich. Jetzt stehen Investitionen an: Die Gemeinde hat beschlossen, die lokalen Steuern zu senken und Häuser zu renovieren, darunter auch die Schule im oberhalb von Campo gelegenen Cimalmotto. Dort werden nun drei Wohnungen als Zweitwohnsitz vermietet. Zwar haben diese Massnahmen Rentnerinnen und Rentner angezogen, nicht aber Familien. In Niva, wo Mauro Gobbi lebt, setzen die Bürger auf die Renovation der alten, 1967 geschlossenen Schule. Darin hätten zwei Wohnungen Platz, in denen man auch im Winter leben könnte, so Gobbis Hoffnung, der ebenfalls über die «Lex Weber» wettert. Das Gesetz hat Renovationen deutlich komplizierter gemacht.
Gemeinderpäsident Mauro Gobbi hat unlängst einen weiteren Aufruf gestartet, um mehr Menschen zu motivieren, sich auf dem Berg niederzulassen. Sein Schlüsselargument zur politisch heiklen Problematik der vielen Zweitwohnungen: Schliesslich ist es jederzeit möglich, eine Zweitwohnung in einen ständigen Wohnsitz umzuwandeln.
Leben bei den Wölfen vor einer Kulisse, die an «Der Herr der Ringe» erinnert: Dieses Abenteuer lockte Ende der 1980er-Jahre die Familie Senn mit ihren sechs Kindern in die Region. Die aus dem Kanton Zürich stammenden Hippies nahmen zuerst ein Grundstück in Munt la Reita in Beschlag. Heute ist aus der abgelegenen Weide, auf der damals drei kleine Ställe standen, ein Bio-Bauernhof geworden, auf dem unter anderem Käse und Fleisch produziert werden.
Auf dem Hof übernachten auch Wandernde, Schulkinder und freiwillige Arbeitskräfte. Gäste haben die Möglichkeit, in einer Jurte, in Zelten oder in kleinen Holzhütten zu schlafen. Nachts sorgt der
Fluss Rovana für süsse Träume. Tagsüber kann man beim Sammeln von Kräutern helfen oder zur Alp Magnello aufsteigen. Königin des Ortes ist eindeutig Verena. Bevor sie ihre Leidenschaft für die Landwirtschaft entdeckte, war sie als Bibliothekarin tätig. Markus, der 2022 verstorben ist, arbeitete als Schriftsetzer. Er hat hier alles selbst und mit Hilfe des Freun- deskreises und der Familie aufge- baut. Die Pioniere verwirklichten ihren Traum: «Wir wollten das Land ökologisch bewirtschaften und unseren Kindern das wahre Leben zeigen», sagt Verena Senn. Zuerst sorgte ihr Zuzug für Spott. Anfangs wohnten die Senns im Gemeindehaus der Kirche von Campo. Samuel Senn, der mit seinen Brüdern Eli und Luca und seiner Schwester Gabriela oben auf dem Berg blieb, lacht: «Es war wirklich kalt, aber wir sind schliesslich keine Weicheier.»
(SH)
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