Reportage
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An keinem Ort der Schweiz scheint die Sonne mehr Stunden als in Cardada-Cimetta ob Locarno. Dies lockt auch Sonnenforscher und Sonnenforscherinnen an. Eine Erkundung.
Das Tessin gilt als Sonnenstube der Schweiz. Tatsächlich scheint die Sonne im Südkanton besonders häufig. Allerdings gibt es mit dem Wallis einen erbitterten Kampf um die Spitzenposition als sonnenreichster Kanton. Mal liegt nämlich ein Walliser Ort vorne, mal ein Tessiner. Im langjährigen Mittel obsiegt aber das Tessin, wie eine Langzeitstatistik von Meteo Schweiz für die Jahre 1990 bis 2020 aufzeigt. In den Top-Ten-Destinationen für Sonnenschein liegen deren fünf im Tessin. Auf Platz eins kommt Cardada-Cimetta, der Hausberg Locarnos, mit einer mittleren Sonnenscheindauer von 2256 Stunden pro Jahr. Die Walliser Hauptstadt Sitten folgt mit 2192 Stunden.
Cimetta auf 1670 Metern Höhe ist daher nicht zufällig ein beliebter Ausflugsberg, der von Einheimischen und Touristen besucht wird. Er lässt sich bequem auf dem Luftweg erreichen. Von Orselina (395 m) schwebt die Kabine einer Seilbahn zuerst nach Cardada (1340 m), einer Bergsiedlung mitsamt Kirchlein und zwei Gastrobetrieben, wo viele Locarnesi eine Zweitresidenz besitzen. Im Jahr 2000 wurde die Seilbahn vom Stararchitekten Mario Botta renoviert – er verpasste der Tal- und Bergstation ein neues Design. Die Türen zur Kabine öffnen und schliessen sich seither automatisch. Wer in Cardada aussteigt, atmet förmlich eine andere Luft. Gerade jetzt, im Sommer, wenn es in Locarno stickig-heiss ist, wirkt die Frische von Cardada wie eine Befreiung. Die gut 300 Höhenmeter zwischen Cardada und Cimetta lassen sich schliesslich in einem Sessellift zurücklegen, dem letzten Quersessellift der Schweiz, einer Art IndustrieDenkmal aus den 1950er-Jahren. Das Panorama ist fantastisch.
Von der Bergstation gilt es nun einige wenige Höhenmeter zu Fuss zurückzulegen, um die Aussichtsplattform Cimetta zu erreichen. Von hier eröffnet sich ein unglaublicher Rundblick über den Lago Maggiore bis hin zur Dufourspitze in den Walliser Alpen und damit vom tiefsten bis zum höchsten Punkt der Schweiz. Quer über die Aussichtsplattform verläuft die sogenannte «insubrische Linie», welche die Zentralalpen von den Südalpen trennt. Etwas überspitzt gesagt: Hier liegt die Grenze zwischen Nord- und Südtessin, zwischen den Kontinentalplatten Europas und Afrikas. Diese Linie ist dank einer roten Markierung auf der Plattform sichtbar.
Direkt unterhalb dieses Aussichtspunkts stehen unübersehbar einige Messinstrumente von Meteo Schweiz. Genau dort wird die Sonnenscheindauer gemessen, wie der Meteorologe Nicola Gobbi erklärt. Er arbeitet für die «Wetterstation Locarno», wie die Aussenstelle von Meteo Schweiz in Locarno-Monti lange im Volksmund genannt wurde. Auf dem Dach der Meteorologischen Anstalt zeigt er das moderne Messgerät SPN-1, das zur Messung der Sonnenscheindauer heute verwendet wird, aber auch das ältere Messgerät Solar 111 B der Firma Hänni, das in Cimetta noch eingesetzt wird. Durch schnell rotierende Flügel werden bei diesem Gerät die Solarzellen nacheinander in kurzen Abständen abgeschattet. Als Sonnenschein werden alle Zeitpunkte gemessen, bei welchen eine minimale Differenz zwischen der ungestörten Einstrahlung und dem Wert bei Abschattung überschritten wird.
In der ganzen Schweiz gibt es rund 260 solcher automatischer Messstationen, die zusammen das Bodenmessnetz SwissMetNet bilden. Mit Meteo Schweiz erhält der Sonnenschein am Hausberg Locarnos ein wissenschaftliches Gesicht. Denn hier werden Statistiken erstellt und Wetterdaten ausgewertet. Aber nicht nur: Im Garten des meteorologischen Instituts befindet sich die Specola Solare Ticinese, ein Sonnenobservatorium. Es wurde 1957 gegründet, im Internationalen Geophysikalischen Jahr. Es erhebt die Sonnenflecken-Relativzahl («Wolfsche Relativzahl») und war bis 1980 Teil der Eidgenössischen Sternwarte an der ETH Zürich. Seither wird es von einem privaten Verein betrieben und liefert die Daten an die nun für die Verbreitung der Sonnenflecken-Relativzahl zuständige Königliche Sternwarte von Belgien. Ein Kuriosum: Die Karten mit den Sonnenflecken werden noch von Hand gezeichnet.
Etwas weiter bergwärts befindet sich etwas versteckt im Grünen ein weiteres Sonnenforschungsinstitut, das «Istituto Ricerche Solari Locarno» (IRSOL), das auf Sonnenphysik spezialisiert ist. Gegründet wurde das IRSOL im Jahr 1960 von der deutschen Universität Göttingen und von ihr auch bis 1984 betrieben. Verschiedene Standorte in Europa waren geprüft worden, am Ende schien Locarno wegen seiner Position und den vielen Sonnenstunden am geeignetsten. In den 1990er-Jahren gab es Partnerschaften mit verschiedenen Universitäten, insbesondere mit der ETH Zürich. Heute ist das IRSOL mit der Universität der italienischen Schweiz (USI) assoziiert. «Dank des Spezialgeräts Zimpol gelingt es, die Polarisierung des Sonnenlichts mit einer sehr hohen Präzision zu messen», sagt Michele Bianda, langjähriger, aber mittlerweile pensionierter IRSOL-Direktor, bei der Führung durch das Institut an dem sonnenbeschienenen Hang.
Locarno-Cardada-Cimetta ist also nicht nur touristisch ein Sonnenfleck, sondern auch für die Wissenschaft. Die lange Sonnenscheindauer in Verbindung mit den steigenden Temperaturen hat aber auch ihre Schattenseiten. Lange war Cardada-Cimetta nämlich eine Winterdestination. Das Skifahren auf dem Berg mit dem darunter liegenden Lago Maggiore war ein einmaliges Erlebnis. Und ein erster Skilift wurde noch vor der Luftseilbahn gebaut. Doch Schneefall ist in diesen mittleren Höhen immer seltener. 2019 kam der Entscheid, den Winterbetrieb einzustellen. Inzwischen sind fast alle Skilifte abgebaut, auch weil der Unterhalt bei seltenem Betrieb zu teuer ist. Cimetta ist zu einer Sommerdestination geworden. Im Winter kommen Spaziergänger, Schneeschuhläufer oder Tourenskifahrer individuell auf den Sonnenberg, wenn es dann doch mal schneit.
Sonnenschein ist gut für Seele und Körper. In der Vermarktung von Cardada-Cimetta spielt der Sonnenschein aber erstaunlicherweise keine so grosse Rolle, auch wenn die Sonne im grafischen Logo der Destination erscheint. Gepusht wird der Berg als Erlebnisraum und Wanderparadies für die ganze Familie. In den Pionierzeiten des Tessiner Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts, als die Gotthardbahn eröffnete, war dies noch anders. Damals waren auf einigen offiziellen Werbeplakaten noch die Sonnenstunden für Locarno und Lugano verzeichnet, und daneben solche für London und Hamburg. Inzwischen gilt das Klischee des Tessins von der «Sonnenstube der Schweiz» als etwas abgegriffen.
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excellent reportage