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  • Reportage

Auf dem Weg an die Grenzen

06.12.2024 – Dölf Barben

Anna Zimmermann träumt davon, Astronautin zu werden. Oder in der Antarktis auf einer Forschungsstation zu arbeiten. Die Medizinerin ist fasziniert vom Leben in lebensfeindlichen Umgebungen.

Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Leben und Lernen auf dem «Mond» – in den Schweizer Alpen.

Sie springt nicht mit einem Fallschirm von Felswänden. Sie fährt auch nicht mit dem Fahrrad in zehn Tagen durch Amerika. Und doch: Könnte Anna Zimmermann ihre Träume verwirklichen, erlebte sie Dinge, die extremer sind, als Sportlerinnen und Sportler sie je erleben.

Dort, wo sie hingelangen möchte, «bringt einen alles, was draussen ist, ziemlich schnell um», sagt sie. Die Orte, von denen sie spricht, sind die Internationale Raumstation, die in 400 Kilometern Höhe um die Erde kreist, und eine Forschungsbasis in der Antarktis.

Leben in extremer Umgebung, Überleben an den unwirtlichsten Orten: Das ist schon seit langem das grosse Thema der 29-jährigen Aargauerin, die in Bern lebt und Medizin studiert.

«Es ist meine Lebensphilosophie, interessiert und offen zu bleiben und zu schauen, was um die Ecke kommt.» Anna Zimmermann

Immer grösser träumen

Doch woher kommt dieses Interesse? Es sei eher eine Faszination, sagt Anna Zimmermann und spricht über «den Menschen», der sich während Millionen von Jahren in einem «sehr engen Rahmen von Umweltbedingungen» entwickelt habe. Vollends ins Staunen gerate sie aber ob der Tatsache, dass Menschen immer wieder versuchten, «unsere ökologische Kinderstube» zu verlassen und «in unbekannte Gefilde» vorzudringen. Dieses Verlangen treibe die technische Entwicklung voran, sagt sie, «was uns immer grösser träumen lässt».

Besonders fasziniert sei sie von der Stärke der menschlichen Psyche. Sei diese richtig trainiert, könne sie körperliche Grenzen verschieben. «Trotzdem», sagt sie: «Die Psyche ist extrem fragil. Als Menschen sind wir unwiderruflich verbunden mit anderen Menschen – und abhängig von ihnen.»

Anna Zimmermann wollte bald auch ihre eigenen Grenzen erkunden. Sie leistete Militärdienst, absolvierte die Offiziersschule, nahm an Durchhalteübungen teil. Auch privat ging sie weit. Bei einem Trekking in Nepal zum Beispiel. 19 Tage war sie unterwegs, meist auf über 4000 Metern – beissende Kälte, immer die gleichen Kleider. Und erst diesen Februar besuchte sie in Norwegen einen Polarmedizinkurs zur Erstversorgung von Kälteverletzungen.

«Es ist schwieriger, aus der Antarktis zurückzukehren als aus der Internationalen Raumstation, obschon man sich auf dem Heimatplaneten befindet.»

Anna Zimmermann

Der Antrieb: Neugier

Bei alledem lernte sie viel – über sich selbst, aber auch über andere. Und eine Erfahrung kam dazu: Sie mag es, «wenn der Alltag sich verschlankt, wenn es einfach wird. Das ist befreiend.» Ein Punkt aber ist ihr wichtig: Sie mache all diese Dinge nicht, «damit ich sie gemacht habe – es ist die Neugier, die mich antreibt».

Diese Neugier führt sie immer weiter – seit einigen Monaten Richtung Raumfahrt. «Da laufen alle meine Interessen zusammen», sagt sie. Festgestellt hat sie dies vor bald einem Jahr bei einem Besuch des Kennedy-Raumfahrtzentrums in Florida.

Nach diesem «Aha-Erlebnis» begann sie nach möglichen Berührungspunkten zu suchen. Sie stiess auf die Forschungsstation Concordia in der Antarktis. Diese wird von der ESA betrieben, der europäischen Raumfahrtagentur. Forscherinnen und Forscher arbeiten an einem der entlegensten Orte der Erde. Es ist fast so, als wären sie in einem Raumschiff unterwegs. Derzeit ist die Schweizer Ärztin Jessica Kehala Studer dort.

Auf dem «Mond» im Gotthardgebiet

Und dann war da «Asclepios»: Die Organisation, die vor einigen Jahren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) von Studierenden für Studierende gegründet wurde, führt simulierte Mondmissionen durch. Diesen Sommer startete in den Schweizer Alpen, im Gotthardgebiet, bereits die vierte Asclepios-Mission mit über zwei Dutzend Teilnehmenden aus aller Welt – und Anna Zimmermann war dabei.

Als Medizinstudentin wurde sie im Kontrollzentrum eingesetzt. Dieses befand sich in einem Bunker tief unter der Erde. Auf ihrem blauen, kurzärmligen Shirt prangte neben dem Namensschild ein rundes Missionsabzeichen. Anna Zimmermann war zuständig für das körperliche und psychische Wohlergehen der sechs Astronautinnen und Astronauten.

Diese lebten während der 14-tägigen Mission in einem isolierten Bereich der Anlage. Sie führten Experimente durch, absolvierten Krafttrainings und durften bis zur «Rückkehr» zur Erde nur zweimal duschen. Ab und zu war ein Spaziergang auf der «Mondoberfläche» vorgesehen. Sie stiegen in spezielle Anzüge und kamen in der Nähe des Gotthardpasses aus dem Bunker heraus.

Die Bilder, die dabei entstanden, sehen unwirklich und belustigend aus. Es sind orangefarbene Gestalten mit mächtigen Buckeln, die zwischen Steinen und Felsen umherstapfen und mit Geräten hantieren. Sie erinnern an Figuren aus dem Kinderfernsehen.

Sind auch die simulierten Mondmissionen letztlich bloss eine Spielerei? Ein vergnüglicher Ferienaufenthalt für junge Menschen, die Freude haben an Fantasy-Geschichten und davon träumen, zum Mars zu fliegen?

«Keineswegs», sagt Claude Nicollier, einer der renommiertesten Raumfahrtexperten der Schweiz. Er ist der bislang einzige Schweizer Astronaut, der im All war (siehe auch Inter­view). Der Astrophysiker und Ehrenprofessor der EPFL ist Mentor des Asclepios-Projekts.

Vergangenheit trifft auf Zukunft: Astronaut Claude Nicollier macht ein Selfie von sich und einem Teilnehmer im Asclepios-Projekt. Foto Asclepios IV Mission

Die Studierenden hätten sich über Monate intensiv vorbereitet, sagt er. «Sie müssen diszipliniert und streng arbeiten.» Es gebe eine Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Wirtschaft. «Asclepios» könne durchaus wertvolle Erkenntnisse für die «reale» Raumfahrt liefern. Viele dieser Studierenden hätten das Ziel, Astronautin oder Astronaut zu werden. Wer an einer solchen Mission teilgenommen habe, sagt Nicollier, könne bei einer Bewerbung zusätzlich punkten – aber auch dann, wenn es um andere Jobs in der Raumfahrtbranche gehe. Davon gebe es viele.

Die Asclepios-Mission war für Anna Zimmermann bereichernd und «ein sehr schönes Gemein­schafts­erlebnis». Astro­nautin zu werden, bleibe für sie ein «abso­luter» Traum. Bloss ein Traum? Nicht ein Ziel? Hier wird deutlich, wie nüchtern und profes­sionell sie auf ihre Zukunft schaut. «Es ist ein Beruf mit sehr vielen unglaublich spannenden Aspekten», sagt sie. Leider brauche es nur ganz wenige Astro­nau­tinnen und Astro­nauten. Ob bald wieder eine Selek­tion statt­findet, stehe in den Sternen. Deshalb spreche sie lieber von einem Traum.

Realistischer sei für sie das Ziel, als Forscherin in der Raumfahrt unterzukommen, etwa als Weltraum­medizinerin. Einen solchen Berufsweg behalte sie im Auge, versteife sich aber nicht darauf: «Es ist meine Lebensphilosophie, interessiert und offen zu bleiben – und zu schauen, was um die Ecke kommt.»

Die Traumforschungsstelle

Und wenn ein Job in der Antarktis-Station um die Ecke käme? «Ja, das wäre meine Traum­forschungsstelle», sagt sie – und erklärt sogleich, wie sie sich darauf vorbereiten müsste. Dabei wird ersichtlich, wie sehr und wie kritisch sie sich damit schon auseinandergesetzt hat. Ein grosses Problem bestehe darin, sagt sie, während Monaten völlig abgeschnitten zu sein. Es sei nicht möglich, nach Hause zu gehen – auch dann nicht, wenn eine nahestehende Person erkranken oder sterben würde. «Es ist schwieriger, aus der Antarktis zurückzukehren als aus der Internationalen Raumstation, obschon man sich auf dem Heimatplaneten befindet», sagt sie. Und doch: «Ich glaube, ich würde es machen.»

https://asclepios.ch

Foto Keystone/Nasa

 
 
Schraube locker im Weltraum?

Die Astronauten Michael Foale (links) und Claude Nicollier ersetzen Sensoren am Weltraumteleskop Hubble (1999). Nicollier ist dabei am Roboterarm des Space Shuttles festgezurrt.

Claude Nicollier ist nach wie vor der einzige Schweizer, der im All war. Wie erfuhr er die Schwerelosigkeit? Und was hält er heute von Reisen zum Mond und zum Mars?

Jetzt das Interview mit Claude Nicollier lesen

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