Um Abstimmungen herbeizuführen, sind mutmasslich Tausende Unterschriften gefälscht worden. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen kommerzielle Sammler. Der Skandal erschüttert das Vertrauen in die direkte Demokratie – und verschafft dem E-Collecting Auftrieb.
Das Ausmass ist erschreckend. Es geht nicht um einzelne gefälschte Unterschriften. Es geht um ganze Unterschriftenbögen, die mutmasslich manipuliert wurden. Und um Volksinitiativen, die offenbar nur dank illegaler Geschäftspraktiken zustande gekommen sind. Und somit um Abstimmungen, die nie hätten stattfinden sollen. Es bestehe der Verdacht auf Unterschriftenfälschung «im grossen Stil», schrieb der «Tages-Anzeiger» im September 2024. Am Pranger stehen Firmen, die kommerziell Unterschriften sammeln. Solche professionelle Sammler kommen vor allem dann zum Zug, wenn Pläne für ein Volksbegehren zu scheitern drohen, wenn Komitees also Mühe haben, in kurzer Frist die nötigen 50 000 oder 100 000 Unterschriften zusammenzutragen.
Professionelle Hilfe in Anspruch nahmen Anfang 2023 beispielsweise auch die Initiantinnen und Initianten, die vorschlagen, einen Service Citoyen, einen Gemeinschaftsdienst für alle, zu schaffen. Sie engagierten Incop, einen Anbieter aus Lausanne. Er sollte innerhalb eines Monats 10 000 Unterschriften sammeln und dafür mit 4.50 Franken pro Unterschrift entschädigt werden. Das Komitee wurde allerdings enttäuscht: Ein grosser Teil der Unterschriften erwies sich als ungültig. Pro Gemeinde mussten 35 bis 90 Prozent aussortiert werden. Normalerweise bewegt sich die Quote ungültiger Unterschriften um die zehn Prozent.
Noémie Roten zählt zu jenen, die den Stein ins Rollen brachte. Ihr Komitee reichte 2023 wegen Betrugsverdacht Strafanzeige ein. Foto Keystone
Systematisch und im grossen Stil manipuliert
«Am Anfang dachten wir, da habe ein einzelner Sammler oder eine einzelne Sammlerin betrogen», sagte Noémie Roten, Co-Präsidentin der Initiative, dem «Tages-Anzeiger». Mit der Zeit hätten sich jedoch Muster erkennen lassen, die auf einen systematischen Betrug hindeuteten. Oft waren Namen und Adressen zwar korrekt – sie lassen sich an Briefkästen ablesen –, aber die Geburtsdaten stimmten nicht. Einzelne Personen waren bis zu fünfmal und mit unterschiedlichen Handschriften eingetragen. Im Juni 2023 reichte das Komitee deshalb bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige ein. Inzwischen zeigt sich, dass hier kein Einzelfall vorliegt: «Auch bei zahlreichen anderen Initiativen und Referenden sind Unterschriften im grossen Stil erfunden, gefälscht oder kopiert worden».
In den letzten Jahren ist es offenbar zu einem lukrativen Geschäft geworden, Unterschriften zu beschaffen. Vor der Pandemie lagen die Preise zwischen 1.50 und 2.50 Franken. Inzwischen werden bis 7.50 Franken pro Unterschrift bezahlt. Die engagierten Sammlerinnen und Sammler erhalten davon allerdings nur einen Bruchteil.
Insider kritisiert Zuwarten der Behörden
2019 wurden die Behörden erstmals auf mögliche Betrugsfälle aufmerksam. Das Phänomen tauchte zuerst in der Romandie auf, wo mehrere Anbieter angesiedelt sind. Der Kanton Waadt vernetzte sich deshalb mit weiteren Westschweizer Kantonen und wandte sich an die Bundeskanzlei (BK). Neuenburg beschloss 2021, kommerzielles Sammeln zu verbieten. Nach der Pandemie wurden der BK immer häufiger Unregelmässigkeiten gemeldet – vermehrt auch aus der Deutschschweiz.
Daniel Graf von der Stiftung für direkte Demokratie lobt das couragierte Handeln des Service-Citoyen-Komitees. Damit sei die Problematik auf die politische Agenda gelangt. Foto Keystone
Der Unterschriften-Betrug tangiert zentrale Instrumente der politischen Mitsprache. Entsprechend heftig fallen die Reaktionen aus. Von «einem demokratiepolitischen Erdbeben» und einem «massiven Vertrauensverlust» ist die Rede. «Die Dimensionen sind erschreckend», sagt Daniel Graf von der Stiftung für direkte Demokratie. Es habe schon mehrere Jahre lang Hinweise auf Manipulationen durch kommerzielle Firmen gegeben. «Ich bin aber von Einzelfällen ausgegangen, die – wenn nötig – strafrechtlich verfolgt werden.» Doch die kantonalen Amtsstellen und die BK hätten es verpasst, Missbrauch frühzeitig und wirksam zu bekämpfen.
Es sind keine Resultate gefälscht worden
Den angeklagten Geschäftsleuten wird Wahlfälschung vorgeworfen. Das Vergehen gilt als gravierend und kann mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden. In den vorliegenden Fällen geht es wohlgemerkt nicht um fehlerhafte Ergebnisse. Es ist zwar möglich, dass Volksbegehren zur Abstimmung gelangten, die unrechtmässig zustande gekommen sind. Das letzte Wort hatte aber stets das Stimmvolk. «Es ist keine Vorlage angenommen worden, die man eigentlich ablehnen wollte», sagt Politikwissenschaftler Michael Hermann. Es seien keine Wahl- oder Abstimmungszettel manipuliert und damit Resultate verfälscht worden. «Ein solcher Betrug wäre deutlich gravierender.»
Das jetzige System begünstige betrügerisches Verhalten, sagt Rahel Estermann, Generalsekretärin der Grünen Schweiz. «Wenn man pro Unterschrift bezahlt wird, ist der Anreiz zu fälschen hoch». Wer Namen von Briefkästen abschreibe, verdiene in wenigen Minuten viel Geld. «Das ist problematisch – und könnte beispielsweise mit einem Stundenlohn geändert werden.» Unter den publik gewordenen Verfehlungen hätten nun ausgerechnet jene zu leiden, die sich freiwillig engagierten. Auf der Strasse schlage ihnen nun häufiger Misstrauen entgegen. «Wenn man früher 20 bis 30 Unterschriften pro Stunde gesammelt hat, sind es jetzt noch etwa 10 bis 15 Stück.» Daniel Graf teilt diese Beobachtung. «Viele Passanten fragen sich, ob sie gerade bei einer engagierten Bürgerin oder einem bezahlten Sammler unterschrieben haben – und was dann mit ihren Daten passiert.» Weil die gesetzliche Handhabe fehle, um Missbräuche wirksam zu bekämpfen, müsse die Kommerzialisierung mit einem Verbot gestoppt werden. «Wir sollten nicht vergessen, was unsere direkte Demokratie stark macht: freiwilliges Engagement.»
Selbstregulierung statt Gesetze
Die Politik hat ein Verbot bislang abgelehnt. Handeln will die Bundeskanzlei. Sie will das Monitoring und die Kontrolle verstärken, setzt auf Selbstregulierung und hat einen permanenten Austausch aller Beteiligten initiiert. Bis im Frühling 2025 sollen sie einen Verhaltenskodex erarbeiten. Das Parlament wiederum wird über strengere Vorgaben für kommerzielle Anbieter, ein Verbot und Offenlegungspflichten für Komitees diskutieren.
Parlamentsmitglieder von links bis rechts schlagen zudem vor, einen Pilotbetrieb für E-Collecting zu starten. Dafür soll die Vertrauensinfrastruktur der E-ID genutzt werden, die ab 2025 für Testzwecke zur Verfügung stehen wird. Digitales Sammeln könne die Sicherheit bei der Unterschriftenabgabe substanziell erhöhen, argumentieren Befürworter. «Man könnte die Angaben besser kontrollieren», sagt Amelle Ako von der Bürgerbewegung Campax. Bögen müssten nicht mehr per Post zusammengetragen und aufwändig überprüft werden. Das ganze Verfahren würde vereinfacht, so die Leiterin Kampagnen von Campax. Der Bundesrat hat sich mit den Chancen und Risiken von E-Collecting befasst. Er will beschränkte, praktische Versuche ermöglichen und hat dazu ein Vorprojekt in Auftrag gegeben.
Der Betrugsskandal spielt den Promotoren einer rein digitalen Lösung in die Hände. «E-Collecting kann das Vertrauen in die Wahrnehmung der politischen Rechte wiederherstellen», sagt sie.
Zwei Wege zu einem Volksentscheid
In der Schweiz kann man auf zwei Wegen eine landesweite Abstimmung herbeiführen. Entweder mit einer Volksinitiative oder mit einem Referendum. Eine Volksinitiative lanciert, wer eine neue Idee in der Verfassung verankern möchte. Dazu müssen innerhalb von 18 Monaten 100 000 gültige Unterschriften von Stimmberechtigten zusammengetragen werden. Gelingt dies, kommt es zu einer Volksabstimmung. Ein Referendum ergreift, wer einen Entscheid des Parlaments korrigieren oder aufheben möchte. So lässt sich ebenfalls eine Volksabstimmung erzwingen. Nötig sind dazu 50 000 Unterschriften, gesammelt innerhalb von 100 Tagen. (ERU)
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