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Den sogenannten Regenbogenfamilien wird in der Schweiz zunehmend tolerant begegnet. Ihnen naht jetzt eine wichtige Weichenstellung: Am 26. September entscheiden die Stimmberechtigten, ob homosexuelle Menschen künftig heiraten können.
Familien, die nicht dem traditionellen Modell entsprechen, leben in der Schweiz offener als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Gleichgeschlechtliche Paare erfüllen sich ihren Kinderwunsch. Lesben und Schwule, die zuerst einem konventionellen Lebensentwurf folgten, outen sich und binden sich neu. Die reformierte Kirche erteilt Frauen- und Männerpaaren den Segen. Sogar einzelne katholische Seelsorger gehen diesen Weg, ganz im Widerspruch zur offiziellen Haltung ihrer Kirche. «Die Gesellschaft hat sich deutlich gewandelt», sagt Maria von Känel, Geschäftsführerin des Dachverbandes Regenbogenfamilien und Co-Präsidentin des Komitees «Ehe für alle». Dank der zunehmenden Akzeptanz seien Regenbogenfamilien im Alltag sichtbarer geworden. Ihre Bedürfnisse würden mittlerweile auch in konservativen Kreisen wahrgenommen.
Was die rechtliche Anerkennung diverser Lebensformen betrifft, ist die Schweiz gemächlich unterwegs. 2007 hat sie die eingetragene Partnerschaft eingeführt, 2018 die Stiefkindadoption. Nun wollen Bundesrat und Parlament mit der «Ehe für alle» einen weiteren Schritt tun. Schwule und Lesben sollen künftig heiraten können. Sie sollen unter anderem bei der Einbürgerung, beim Erben, in der Altersvorsorge und bei Besuchen im Spital heterosexuellen Eheleuten gleichgestellt werden. Sie sollen ihren Zivilstand auf Formularen künftig als «verheiratet» angeben können.
Verheiratete Frauenpaare sollen zudem die Möglichkeit erhalten, in der Schweiz eine Samenspende in Anspruch zu nehmen. Ihre Kinder sollen ab Geburt die gleichen Rechte haben wie der Nachwuchs aus heterosexuellen Ehen. «Die Familien mit zwei Müttern sind da, sie sind mitten in unserer Gesellschaft und sie sind gleichwertig», sagt GLPNationalrätin Kathrin Bertschy, welche die Gesetzesänderung 2013 angestossen hat. Die Vorlage, die am 26. September zur Abstimmung gelangt, wirke wie aus der Zeit gefallen. Tatsächlich haben 28 andere Staaten die Ehe bereits für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Die Niederlande machte 2001 den Anfang.
In der Schweiz kam das Begehren vor über 20 Jahren erstmals aufs politische Parkett. Aber erst 2020 bekannten sich National- und Ständerat klar für die «Ehe für alle». Dass es zu diesem «Meilenstein» und «unglaublichen Fortschritt» kam – wie die Befürwortenden jubelten – , ist auch auf die neue Zusammensetzung des Parlaments zurückzuführen. Die gesellschaftsliberalen Kräfte hatten in den Wahlen 2019 deutlich zugelegt.
Die Schweiz habe Mühe mit gesellschaftlichen Reformen, sagt Kathrin Bertschy: «So vorteilhaft unsere Demokratie sein mag, schützt sie doch vor überhasteten Entscheiden, so schwer tut sie sich damit, gesellschaftlichen Wandel rechtzeitig in die Gesetzgebung zu integrieren.»
Konservativen Kreisen geht der Entscheid des Parlaments zu weit. Sie haben mehr als 60 000 Unterschriften zusammengetragen, damit das Volk das letzte Wort erhält. Sie argumentieren teilweise religiös: In der Bibel sei die Ehe ausschliesslich für heterosexuelle Paare vorgesehen. Sie sei die natürliche Lebensgemeinschaft, aus der Kinder hervorgingen. Am meisten stört die Gegnerschaft der Zugang zur Samenspende. Den so gezeugten Kindern werde der Vater vorsätzlich verwehrt, kritisiert sie. Das Kindswohl leide. Zudem seien weitergehende Forderungen, wie die Eizellenspende oder Leihmutterschaft, zu befürchten. «Das geht einfach viel zu weit», sagt Marianne Streiff, die bis im Juni dieses Jahres Parteipräsidentin der EVP war.
Das Ja-Komitee widerspricht. Von einer Salamitaktik könne keine Rede sein. Ziel sei die Gleichberechtigung, die gemäss Verfassung jedem Menschen unabhängig von seiner Lebensform zustehe. Die Befürworterinnen und Befürworter verweisen darauf, dass Kinder die Identität des Samenspenders erfahren können, sobald sie 18 Jahre alt sind. Die Eizellenspende und Leihmutterschaft sind nicht Teil der Vorlage: Sie bleiben in der Schweiz verboten.
Neue Familienformen seien längst Alltag, sagt Yv E. Nay von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Studien zeigten einstimmig, dass für das Wohlergehen der Kinder nicht die sexuelle Präferenz der Eltern, sondern die Beziehungsqualität und das Klima in der Familie entscheidend seien. Nay beobachtet, dass in politischen Auseinandersetzungen um die Rechte der LGBTQ mit Kindern traditionelle Bilder heraufbeschworen werden, die mit der gelebten Realität von Regenbogenfamilien wenig zu tun haben. «Es wird immer noch an einem Ideal festgehalten, das eigentlich nicht mehr zu retten ist und das als solches, wenn überhaupt, dann nur sehr kurze Zeit existierte.»
Lesbische Paare, die eine Familie gründen, sollen mit der «Ehe für alle» Elternrechte ab Geburt erhalten. Zurzeit wird nur die leibliche Mutter als solche anerkannt. Ihre Partnerin kann zwar eine Stiefkindadoption beantragen. Diese kann aber frühestens ein Jahr nach der Geburt des Kindes eingeleitet werden. Tatsächlich dauern solche Verfahren oft mehrere Jahre. «In dieser Zeit sind die betroffenen Kinder unzureichend abgesichert», gibt Maria von Känel zu bedenken. Die neue Gesetzesvorlage schaffe Rechtsgleichheit und nehme den Betroffenen einen grossen Leidensdruck. Sie gestehe homosexuellen Menschen viele weitere Grundrechte zu, die mit der eingetragenen Partnerschaft nicht abgedeckt würden: «Daher braucht es die ‹Ehe für alle› unbedingt.»
Die Chancen für ein klares Ja zur «Ehe für alle» an der Urne stehen gut. Dass diverse Familienformen gesellschaftlich zunehmend akzeptiert sind, belegt die vom Bund herausgegebene «Erhebung zu Familien und Generationen 2018».
58 Prozent der Frauen und 43 Prozent der Männer finden, dass ein Kind auch bei einem gleichgeschlechtlichen Paar glücklich aufwachsen kann. Mehr als die Hälfte der Befragten (65 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer) sind der Meinung, dass homosexuelle Paare die gleichen Rechte haben sollten wie heterosexuelle. Eine Umfrage, welche das Meinungsforschungsinstitut GFS im Auftrag der Schwulen-Organisation pink cross durchgeführt hat, dokumentiert ebenfalls eine breite Akzeptanz. 63 Prozent der Teilnehmenden antworteten auf die Frage, ob sie für die «Ehe für alle» seien, mit «Ja», 18 Prozent mit «eher Ja». «Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung will eine Gleichstellung», ist Maria von Känel überzeugt.
Das im Text verwendete Kürzel LGBTQ steht für: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und Queers, sprich Geschlechts-Uneindeutige.
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