Literaturserie
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Selbst Opfer der Ausgrenzung, kämpfte die Schriftstellerin Mariella Mehr leidenschaftlich für die Rehabilitation der «Kinder der Landstrasse».
1981 erschien ein Buch, das als ein erschütterndes document humain für viele unvergessen blieb. Es trug den Titel «Steinzeit» und es waren die Erinnerungen des Mädchens Silvia, das seine Kindheit als Opfer der gegen die jenische Minderheit ergriffenen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen als Steinzeit empfand. «ich will leben, hört ihr, trotz eurer prognose, die ihr mir vor dreissig jahren schon gestellt habt, ich will leben, nichts als leben», ruft Silvia noch als junge Erwachsene aus, und nicht nur ihr voller Wut artikulierter Überlebenswille, auch die Erlebnisse, von denen sie berichtet, wirken unmittelbar authentisch: die Mutter, die das Kind nicht haben wollte, die körperlichen und seelischen Qualen, die ihm in Heimen und Anstalten als rechtloser Exponentin der jenischen Minderheit angetan wurden.
Nur wenig verfremdet hat die am 27. Dezember 1947 in Zürich als Kind einer jenischen Mutter und eines lange unbekannt bleibenden Vaters geborene Mariella Mehr in ihrem Erstling zur Darstellung gebracht, was mit ihr selbst geschehen war: «Fremdplatzierung» durch Pro Juventute, sexueller Missbrauch im Kleinkindalter, psychiatrische Klinik, Missbrauch durch einen Pflegevater, Kinderheim, Internat, Geburt eines Sohnes in der Strafanstalt Hindelbank, Wegnahme des Sohnes durch Pro Juventute, Selbstmordversuch, Klinikaufenthalt und schliesslich Verarbeitung des Traumas beim Schreiben des Erstlings.
«Steinzeit» war nicht bloss das unverstellte Bekenntnis einer mehrfach Misshandelten, sondern auch ein erstes Zeugnis jenes literarischen Talents, das Mariella Mehr jahrzehntelang immer wieder unter Beweis stellte. So im Roman «Zeus oder der Zwillingssohn» (1994), in dem der Göttervater in der Gestalt eines Patienten in der Anstalt Waldau Aufnahme findet und von einem seiner weiblichen Opfer, als wolle es sich rächen für Millionen andere, brutal zerfleischt und kastriert wird. In «Daskind» (1995), dem Roman über ein vielfach gemartertes und beleidigtes, sich am Ende gegen das Unrecht aufbäumendes Wesen, zu dem die «NZZ» schrieb: «Wenn Prosa krank machen könnte: Dieses Buch könnte ganze Krankenhäuser füllen.» In «Brandzauber» (1998), dem Requiem auf ein jenisches und ein jüdisches Mädchen, die in einem Internat ein verschworenes Duo bilden und den Tod zwischen sich stellen, «als wären sich zwei Feuerengel begegnet».
«Fünfundzwanzig jahre habe ich mich wie ein berserker durch verbalität gekämpft, um der angst worte zu geben. die ersten fünf Jahre blieb ich stumm, gefangen in dumpfer kontaktarmut. autismus: der welt begegnen und ihre botschaft mit schweigen erwidern.»
Und in «Akte M. Xenos ill.* 1947 – Akte C. Xenos ill.* 1966», einem Theaterstück, das den Titel ihres Dossiers beim Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» trägt, zeigt Mariella Mehr eindringlich die Verstörung auf, die eine rassistische «Fürsorgepolitik» nicht nur in ihr angerichtet hatte. Das Thema hat sie bis zuletzt nicht ruhen lassen und leuchtete auch immer wieder in jenen Gedichten auf, die das Letzte, aber vielleicht Erschütterndste sind, was sie ihrem nach wie vor wachen Geist abzuringen vermochte: «Zukunft? / Sie spricht mich nicht los, / mich Schiefgeborene. / Komm, sagt sie, / der Tod ist eine Wimper / am Lid des Lichts.»
Am 5. September 2022 ist Mariella Mehr in einem Zürcher Pflegeheim mit 74 Jahren gestorben. Wer ihr in ihren letzten Monaten noch begegnen konnte, stand einer Frau gegenüber, die dem fast Unerträglichen, das sie erlebt hatte, mit einer versöhnlichen Gelassenheit gegenüberstand. Ihr eindrucksvolles Gesicht zeugte noch davon, aber im Gespräch wirkte sie heiter und gelöst. Eine ihrer letzten Reisen führte sie im November 2021 nicht nach Arizona zum Grand Canyon, den sie so gerne einmal gesehen hätte, sondern nach Bern zur Ausstellung «Jetzt wählen», die unter anderem ihr unermüdliches politisches Engagement thematisierte. Da erlebte sie die diebische Freude, dass der Kurator der Ausstellung nicht glauben konnte, dass die im Rollstuhl anonym an der Führung teilnehmende Frau in der schwarzen Lederjacke tatsächlich Mariella Mehr war.
Bibliografie: «Steinzeit» ist beim ZytgloggeVerlag, Basel, als Taschenbuch greifbar. Die französische Übersetzung von Jeanne Etoré erschien 1987 unter dem Titel «Age de pierre» bei Aubier-Montaigne in Paris.
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