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  • Literaturserie

Suzanne Deriex | Eine bewegende Kindheitsgeschichte und ein fulminantes Romanfresko

10.05.2024 – Charles Linsmayer

Die 98-jährige Suzanne Deriex ist eine der grossen Autorinnen der Welschschweizer Literatur.

Die Autorin Suzanne Deriex.

«Stirbst Du einmal zur gleichen Zeit wie Papa?» fragt die siebenjährige Jeanne ihre Mutter und bringt sie ebenso in Verlegenheit wie die anderen Erwachsenen, die das vorwitzige Kind mit seinen Fragen nervt. Sogar als Religionskritikerin entpuppt sich die Kleine, die protestantisch ist, aber den katholischen Kaplan wegen der vielen Bilder in dessen Kirche zur Rede stellt. Als ihre Grossmutter stirbt, findet sie das ganz natürlich: «Sie war doch alt, krank und verwitwet.» Als aber Michou, wie sie ihre junge Mutter nennt, an einer Blutvergiftung erkrankt, bekommt die harmlose Kinderfrage von ehedem unversehens einen tragischen Sinn, und als sie tatsächlich stirbt, wirft das einen unauslöschlichen Schatten auf ihre zuvor behütete, fröhlich-unbeschwerte Kindheit. Eine weise Erkenntnis über den Tod vermittelt auch der letzte Satz des Romans, der lautet: «Wenn niemand einen erwartet, kommt man immer zu früh.»

Tiefgründig und doch leicht

Die trotz seiner schweren Thematik leicht und schwerelos daherkommende, weitgehend in Dialoge aufgelöste Kindheitsgeschichte «L’enfant et la mort» war 1968 der dritte Roman, der unter dem Pseudonym Suzanne Deriex erschien. Erstmals war der Name 1961 auf dem Titelblatt des Romans «Corinne» erschienen, der Geschichte einer Lehrerin, die sich in einen Schüler verliebt. Fast wie ein Thriller war 1964 «San Domenico» dahergekommen, der Roman einer jungen Frau, die dem Charme eines italienischen Spions verfällt. Hinter dem Pseudonym Deriex aber verbarg sich die am 26. April 1926 als Arzttochter in Yverdon geborene Suzanne Piguet-Cuendet, die, mit einem Juristen verheiratet und Mutter von drei Söhnen, auch mit bald 98 Jahren und trotz einer weitgehenden Erblindung in ihrem Haus am Genferseeufer bei Cully noch immer schriftstellerisch tätig ist. Bis 2019, als der vierte Band, «S’il plaît à Dieu», erschien, arbeitete sie da an ihrem literarischen Hauptwerk, einer historisch-biografischen Romanserie, die 1756 Seiten umfasst (der erste Band, «Un arbre de vie», erschien 1995, Band zwei – «Exils» – 1997 und Band drei – «La Tourmente» – im Jahr 2001). Im Mittelpunkt des epochalen Zyklus steht eine frühe Verwandte der Autorin: Elisabeth Antoinette, eine Tochter aus jenem Haus Gonzenbach im thurgauischen Hauptwil, wo einst Hölderlin Hauslehrer war. Die Romanserie, die eine ganze Epoche in einer Familiengeschichte spiegelt, beginnt 1763 in Hauptwil mit dem Tod von Elisabeths Mutter. Sie hinterlässt einen Mann und drei Töchter, darunter eben jene Elisabeth genannt Elsette, die von Pestalozzi, Lavater und Albrecht von Haller bis zu Voltaire die grossen Geister der Epoche kennenlernen wird. Bereits 1968 hat Suzanne Deriex unter dem Titel «Les sept vies de Louise Croisier née Moraz» auch die Lebensgeschichte ihrer Grossmutter literarisch verarbeitet.

«Warum, warum das ist einfach zu ungerecht, eine so junge Frau», klagen Tante Ida und Cousine Odile. Jeanne weiss warum. Michou hatte ein Zeichen auf der Stirn. Die Leute konnten es nicht sehen. Gérard sagt, der Krieg in Vietnam werde schlimmer und die Gelben werden Europa erobern. Gott nimmt die zu sich, die er vor dem Weltuntergang retten will. Jetzt kann das schwarze Pferd aus dem Meer steigen.» 

Aus: Suzanne Deriex, «Das Kind und der Tod», Th. Gut Verlag, Zürich 2006

Für Rebellen und Gestrauchelte

Neben diesen Romanen, die Familiäres mit der Zeitgeschichte verknüpfen, hat sich die Autorin immer wieder mit grossem persönlichem Engagement sozialen Fragen gewidmet. So in «Pour dormir sans rêves» von 1980, einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen adäquateren Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen, das seine Authentizität daraus bezog, dass der älteste Sohn von Suzanne Deriex in den 68er-Jahren im Gefängnis sass, weil er zu den «Blousons dorés», einer Gruppe rebellischer Jugendlicher, gehört hatte. Auch in «L’Homme n’est jamais seul» von 1983 wandte sich die tiefgläubige Dichterin, die nach einem Erweckungserlebnis bei Karl Barth in Basel Theologie studiert hatte, Gestrauchelten und Aussenseitern zu und liess sie in der Begegnung mit verständnisvollen Mitmenschen aus ihrer Vereinzelung herausfinden.

Bibliografie: «Das Kind und der Tod» ist in der Übersetzung von Irma Wehrli als Band 23 von «Reprinted by Huber» im Verlag Th. Gut, Zürich, deutsch greifbar.

Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich

 

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