Literaturserie
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Gertrud Pfander gehört nicht zu den Dichterinnen von Weltrang, aber mit ihren Totengedichten setzte die 1898 mit 24 Jahren verstorbene Baslerin den Unzähligen, die der Tuberkulose zum Opfer fielen, ein erschütterndes Denkmal.
«Ich wollte weisse Adler senden Und liess ein Schwalbenpärchen raus. Ich wollte mächtige Worte wenden, Ich wollte weisse Lilien spenden Und nun ist’s nur ein Heidestrauss.»
Der Vers, den Gertrud Pfander 1898 ihren letzten Gedichten voranstellte, zeigt das Erlahmen jenes unbändigen Willens an, mit dem sie ihrer Krankheit Bleibendes hatte abtrotzen wollen. Sie warte nach wie vor «auf ein grosses Glück», hatte es 1896 in einem Lebenslauf noch geheissen, «denn der Durst ist noch nicht gelöscht». Als uneheliches Kind am 1. Mai 1874 in Basel geboren, hatte sie in ihrer Jugend die Not des Verschupft- und Verlorenseins bis zur äussersten Grenze des Erträglichen durchlitten, war während kurzer Auslandsaufenthalte von der gröbsten Misere innerlich freigekommen und hatte eben als Telefonistin zu sich selbst und ihrer eigenen Persönlichkeit gefunden, als die Tuberkulose sie einholte und alle Pläne vereitelte. Nun war sie zwanzig, hatte kein Leben hinter sich und keines mehr vor sich, zog als Erbin eines kleinen Vermögens wie eine Ausgestossene von Sanatorium zu Sanatorium und litt, mehr noch als unter der Krankheit, an einer unstillbar grossen Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit.
Es ist gewiss kein Wunder, dass sie ihre Not, wie schon als Kind, dem Papier anzuvertrauen begann, aber es mutet wie eine wunderbare Fügung an, dass Gertrud Pfander die existenzielle Bedrohung ebenso wie das bisschen Glück, das ihr noch beschieden war, mit den amateurhaften Mitteln einer an Heinrich Heine und Annette von Droste-Hülshoff orientierten konventionell-schematischen Reimpoesie derart gültig und eindrücklich zu gestalten vermochte. Was in ihrer Lyrik zum Ereignis wird, ist ja nicht die formale Vollendung, sondern die Radikalität, mit der sie sich auf ihr eigenes intimes Erleben beschränkt, ist die Offenheit, mit der sie Gefühle zum Ausdruck bringt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie, erstaunlich für jene Zeit, das Liebeserlebnis der Frau als Subjekt und dem Mann als Objekt zuordnet.
«Da ich immer spärlich gehalten war, aber immer unbeaufsichtigt umherfuhr, habe ich mich umso vertrauter gemacht mit Bergriesen und Wolkenzügen. Auch warte ich noch immer auf ein grosses Glück. Denn der Durst ist noch nicht gelöscht. Und weil ich das meinen lieben Freunden in Versen erzählt habe, bin ich ein Dichter geworden. Meine Lehrerin ist das Leben, und zwar meistenteils das unglückliche Leben. Da halten künstliche Beweisführung und Philosophie nicht stand. Ich möchte meine Leser bitten zu glauben, dass meine Sätze weniger der Klugheit entsprechen als dem absoluten Bedürfnis, wahr zu sein.»
Obwohl ihre Muse ein «schwarzes Schleppkleid» trug, war es denn auch bis zuletzt die Liebe, die ihrer Dichtung Auftrieb gab. Die nie eingestandene Liebe zum Primgeiger des Kursaalorchesters von Montreux, die 1894 das konstituierende Element der Musik in ihre Gedichte hineintrug. Oder die Liebe zu jenem Pächtersohn aus Thüringen, der 1896 vom Genfersee nach Kairo weiterzog und das Fernweh nach exotischen Ländern in ihrem Herzen und ihrer Dichtung zurückliess. Die ergreifendste Beziehung aber war die zum neunzehnjährigen Bildhauer Abraham Graf, der gleichfalls lungenkrank war und der Dichterin um einen Monat im Tode voranging. Ihm hat sie 1897 die vier erschütternden Totengedichte des Zyklus «Heimgang» zugeeignet. Als Gertrud Pfander am 9. November 1898 vierundzwanzigjährig in Davos starb, hinterliess sie insgesamt achtzig Gedichte, die zum Teil schon 1896 in der Sammlung «Passifloren» herausgekommen waren beziehungsweise 1908 von Karl Henckell unter dem Titel «Helldunkel» noch veröffentlicht werden sollten. Wie viele von den anmutigen Gebilden für die literarische Ewigkeit bestimmt sind, ist auch nach mehr als 120 Jahren nicht leicht zu sagen. Gertrud Pfander selbst jedenfalls hat das Dichten auf wunderliche Weise Trost und Erfüllung gebracht. «Wir sind Poetenvolk!», triumphierte sie in einem Brief vom Todesjahr 1898. «Wir sind Zauberer! Wir haben den sechsten Sinn! Wir siegen doch! Te Deum laudamus!»
Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich
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