Menu
stage img
  • Politik

IT-Fachleute warnen davor, unüberlegt zu digitalisieren

06.12.2024 – Eveline Rutz

Die Schweiz soll digitaler werden, um den Anschluss nicht zu verlieren. Kritische Stimmen mahnen, dabei die Rechte und Bedürfnisse der Nutzenden nicht zu vergessen. Sich offline zu bewegen, müsse möglich bleiben, fordern sie.

Bücher, Lebensmittel, Kleider und Theaterkarten kaufen viele längst online. Auch wer den Wohnort wechselt, bauen möchte oder Steuern zahlt, tritt mit den Behörden zunehmend digital in Kontakt. Diverse Pendenzen lassen sich heute bequem am Mobiltelefon oder Computer erledigen. Das Potenzial für digitale Dienstleistungen der Behörden ist gross – wird in der Schweiz allerdings erst wenig ausgeschöpft. Im jährlichen Ranking der Europäischen Union liegt sie unter dem EU-Durchschnitt. Aktuell belegt sie den Rang 31.

Die Zahl der Online-Services ist überschaubar. Eine staatliche E-ID fehlt (siehe «Schweizer Revue» 6/2022). Viele der vorhandenen IT-Systeme sind nicht anschlussfähig; Daten werden kaum nach einheitlichen Standards erfasst. Das erschwert es, Informationen nahtlos auszutauschen sowie für Planung, Verwaltung und Forschung zu nutzen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde dies bewusst, als der Bund während der Corona-Pandemie Mühe hatte, sich zeitnah einen Überblick über das Infektionsgeschehen zu verschaffen. Nicht wenige Arztpraxen meldeten die Zahl der Erkrankten per Fax nach Bern. Der Aufschrei war gross: Verwaltung, Politik und Wirtschaft drängten auf mehr Engagement und Tempo. Die Schweiz müsse den digitalen Umbau beschleunigen, um nicht den Anschluss zu verlieren, so der Tenor. 

«Wir wollen eine menschenfreundliche Digitalisierung und orientieren uns dazu an den Grundrechten.»

Monica Amgwerd

Generalsekretärin der Zürcher Piratenpartei

Die öffentliche Verwaltung steht unter Druck, Verpasstes nachzuholen. «Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren», sagte Anne Lévy, Direktorin des Bundesamts für Gesundheit (BAG), als sie auf Anfang 2025 ein nationales Förderprogramm ankündigte. Die Frage sei nicht, ob es im Gesundheitswesen einen Digitalisierungsschub brauche, – «sondern wie schnell wir damit vorwärtskommen und wie gut es uns gelingt, dass alle am gleichen Strick ziehen». 392 Millionen Franken will der Bund bis 2034 allein in diesem Bereich investieren. Weitere Projekte sind am Laufen. Das Prinzip «digital first und digital only» soll auf allen drei Staatsebenen konsequent umgesetzt werden.

Am Schalter ein Bahnticket bar bezahlen, also ohne gleich eine Datenspur zu hinterlassen? Selbst IT-Affine argumentieren, dass dies möglich bleiben sollte. Foto Keystone

Das Smartphone soll ein Werkzeug bleiben

Unter all die Rufe nach mehr Tempo mischen sich auch kritische Stimmen. Widerstand lösen beispielsweise die Pläne der ÖV-Branche aus, Bus- und Bahntickets ab 2035 ausschliesslich digital zu verkaufen. Viele ältere Menschen besässen kein Smartphone, moniert etwa die Vereinigung aktiver Senior:innen- und Selbsthilfeorganisationen Schweiz (Vasos). Sie seien darauf angewiesen, Billette nichtdigital und mit Bargeld kaufen zu können. Zudem gelte es auf Einschränkungen beim Hören und Sehen Rücksicht zu nehmen. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen müssten ebenso einbezogen werden, mahnt Pro Juventute. Gerade für die jüngsten ÖV-Nutzenden sei es wichtig, Einzelfahrten offline erwerben zu können. 

Monica Amgwerd, Generalsekretärin der Zürcher Piratenpartei, teilt diese Meinung. «Es kann nicht sein, dass Kinder gezwungen werden, mit dem Smartphone Billette zu lösen.» Die Möglichkeit, bar zu zahlen, dürfe nicht abgeschafft werden. Daran hätten auch Personen ein Interesse, die ihre Daten nicht überall angeben wollten. «Anders als analoge können digitale Daten im grossen Stil gesammelt, ausgewertet und missbraucht werden», sagt Amgwerd. Davor müsse man sich schützen können.

Die Zürcher Piratenpartei will das Recht auf ein Offline-Leben in der kantonalen Verfassung verankern. Im August hat sie die Volksinitiative «für ein Grundrecht auf digitale Integrität» eingereicht. Menschen sollen im digitalen Raum informiert und selbstbestimmt handeln können. Sie sollen – ohne ihre Zustimmung – nicht überwacht und analysiert werden dürfen. Sie sollen nicht von Maschinen beurteilt werden und darauf zählen können, dass ihre Internetaktivitäten irgendwann vergessen gehen.

Die Vor- und Nachteile ausbalancieren

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass die Forderung nach dem Recht auf ein Offline-Leben aus einer Partei kommt, in deren Reihen zahlreiche IT-Fachleute mitwirken und die als besonders technikaffin gilt. «Wir wollen eine menschenfreundliche Digitalisierung und orientieren uns dazu an den Grundrechten – nicht an Trends oder Hypes», sagt Monica Amgwerd: «Dies gehört zu unserer DNA.» Ziel sei es nicht, die Digitalisierung aufzuhalten. Sie müsse jedoch demokratischen Prinzipien folgen. Sie habe der Bevölkerung und nicht einzelnen Konzernen zu dienen. Dafür brauche es Regeln. «Wir bremsen nicht», betont die Generalsekretärin. «Wir greifen ein, um für die Rechte der Menschen zu sensibilisieren.

Diese zu wahren und digital voranzukommen, schliesse sich nicht aus, bestätigt Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft. «Man kann Daten nutzen und schützen – das muss kein Widerspruch sein.» Bei digitalen Projekten gelte es, das Wohl aller Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Als positives Beispiel erwähnt Schönenberger, wie nach dem Volks-Nein von 2021 ein neues Konzept für eine elektronische Identität ausgearbeitet wurde. Das zuständige Bundesamt führte dafür ein partizipatives Verfahren durch. «Alle Perspektiven wurden abgeholt, damit nicht einzelne Akteure finanziell profitieren oder zu viel Einfluss nehmen können.» Verläuft alles nach Plan, soll die E-ID 2026 eingeführt werden. Erik Schönenberger schätzt es, dass in der Schweiz digitale Vorhaben an die Urne gelangen. Grundsätzlich sei zwar auch ein Parlament verpflichtet, den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden. Eine Volksabstimmung löse aber wichtige Debatten aus und habe mehr Gewicht: «Es hat eine andere Wirkung, wenn das Volk entscheiden kann.»

Genf kennt als erster Kanton eine Regelung

Im Kanton Genf haben sich die Stimmberechtigten bereits sehr klar für ein «Verfassungsgesetz Schutz im digitalen Raum» ausgesprochen. Der Ja-Stimmen-Anteil lag bei 94 Prozent. Auch im Bundeshaus war digitale Integrität bereits ein Thema. Für eine nationale Regelung machte sich Samuel Bendahan stark. Es gehe darum, Grundrechte in der digitalen Sphäre zu verteidigen, betonte der SP-Nationalrat aus der Waadt. Wie künstliche Intelligenzen funktionierten und mit sensiblen Daten umgingen, sei häufig nicht transparent. Sie ermöglichten neue Formen der Kontrolle, der Überwachung sowie der Einflussnahme. «Die Menschen müssen vor den verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten der neuen Technologien geschützt werden.» Die eidgenössischen Räte haben Bendahans Vorstoss abgelehnt, verfolgen die Forderung nach digitaler Unversehrtheit aber weiter. Sie wollen ihr auf Gesetzesebene schneller nachkommen. 

Monica Amgwerd hofft, dass die Züricher Initiative über die Kantonsgrenzen hinaus etwas bewegen kann: «Wir möchten, dass sich die Bevölkerung mit dem Thema befasst und dessen Bedeutung erkennt.» Zudem sollten Unternehmen, Behörden und Organisationen ihre Digitalisierungsstrategien überdenken. Letztendlich brauche es nationale Lösungsansätze: «Um digital so voranzukommen, dass in erster Linie die Bürgerinnen und Bürger profitieren.»

Kommentare

×

Name, Ort und Land sind erforderlich

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Geben Sie eine gültige E-Mail an

Kommentar ist erforderlich!

Sie müssen die Kommentarregeln akzeptieren.

Bitte akzeptieren

* Diese Felder sind erforderlich.

top