Reportage
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Der Gotthard-Basistunnel verbindet Erstfeld (UR) und Bodio (TI). Mit 57 Kilometern Länge ist er der längste Eisenbahntunnel der Welt. Bei der Einweihung des Bauwerks im Jahr 2016 standen die beiden Gemeinden an den Tunnelenden im Rampenlicht. Der erhoffte Wirtschaftsaufschwung blieb jedoch aus. Eine Reportage.
Verlassen Reisende den kleinen Bahnhof in Erstfeld, treffen sie auf die historische Passstrasse über den St. Gotthard. Links liegt die Kantine des SBB-Personals, die früher rund um die Uhr geöffnet war. Rechts liegt das Hotel Frohsinn. Einst zählte es stolze 12 000 Übernachtungen im Jahr, doch mittlerweile ist es geschlossen. In der kleinen Urner Gemeinde Erstfeld, in der während dem Bau des 1882 eröffneten ersten Eisenbahntunnels unter dem Gotthardmassiv ein Dorf von Arbeitern und Eisenbahnern entstand, gibt es heute keine Übernachtungsmöglichkeit mehr. «Erstfeld steht und fällt mit den SBB», sagt Gemeindepräsidentin Pia Tresch-Walker. Und: «Ich habe damals schon geahnt, dass die Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels für die Gemeinde schmerzhafte Folgen haben würde. Wir haben dadurch fast alles verloren. Nach der Eröffnung des Tunnels wurden Arbeitsplätze abgebaut und Erstfeld wurde wieder zum Provinzdorf.» Darüber hinaus hat der Einfluss der SBB auf das Gemeindegebiet die weitere Bebauung eingeschränkt. Dem möchte die Gemeinde Erstfeld, unterstützt vom Kanton, nun wieder entgegenwirken.
Vor 2016, dem Jahr der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels, arbeiteten in und um Erstfeld über 600 SBB-Angestellte. Heute sind im Wartungs- und Sicherheitszentrum des Tunnels nur noch 80 Personen und im Bahnhof rund 50 Mitarbeitende beschäftigt. Mehrere Restaurants und Geschäfte in der Gemeinde haben ihre Türen geschlossen. Der frühere Gemeindepräsident von Erstfeld, Paul Jans, kann davon ein Lied singen. 1949 kaufte sein Vater das Hotel Frohsinn, das er anschliessend bis 2014 weiterführte. Auf der Gotthardstrecke passierten bis zu 300 Züge pro Tag das Dorf. «Mit der Eröffnung des ersten Tunnels kamen fliessendes Wasser und Hausnummern in die Gemeinde», erinnert sich Jans. Mindestens ein Mitglied jeder Familie arbeitete bei den SBB. Die Ingenieure, die damals nach Uri gezogen waren, nahmen Einsitz im Gemeinde- oder Schulrat und brachten ihr Fachwissen in die Gemeinschaft ein. «Heute nehmen die SBB in Erstfeld noch nicht einmal mehr Lehrlinge an», beklagt Pia Tresch-Walker, deren Mann Lokführer ist.
In Erstfeld ist der Zugang zum Nordportal mit Barrieren abgesperrt. Paul Jans nimmt uns mit auf einen Rundgang. Von weitem sehen wir die von der Tessiner Architektin Flora RuchatRoncati entworfenen Öffnungen der Betonröhren mit ihren scharfen Kanten. Gäste können den Tunnel über einen Zugangsstollen in Amsteg besichtigen und die Züge durch ein Tunnelfenster vorbeirauschen sehen. Doch wegen des Corona-Virus kommen derzeit kaum Touristen vorbei.
«Nach der Eröffnung des Tunnels wurden Arbeitsplätze abgebaut und Erstfeld wurde wieder zum Provinzdorf.»
Gemeindepräsidentin von Erstfeld
Offen gesagt wurde den Erstfelder Hoffnungen auf mehr Wohlstand schon bei der Eröffnung der Tunnelbaustelle ein Dämpfer versetzt. Die Ingenieure und Arbeitskräfte wurden ausserhalb der Gemeinde, weiter im Norden, untergebracht. «Es war eine Art Kaserne mit 350 Betten und einer Kantine. Die Arbeitskräfte, die zum Teil aus Österreich kamen, arbeiteten vier Tage lang mit voller Kraft und fuhren dann zur Erholung nach Hause», erzählt Jans. Erstfeld bezog nur einen Teil der Quellensteuer, die vom Lohn der Arbeitskräfte abgezogen wurde.
Die neue Eisenbahnstrecke durch die Alpen bietet Erstfeld keine direkte Verbindung ins Tessin. Wer mit dem Zug durch den Tunnel nach Bellinzona reisen will, muss erst nach Flüelen zurückfahren. Das hindert Gemeindepräsidentin Pia Tresch-Walker jedoch nicht daran, diese Verbindung regelmässig zu nutzen. Sonntags fährt so manch einer von Erstfeld nach Bellinzona, um sich dort ein günstiges Buffet zu gönnen. Mit dem Zug erreicht man die Tessiner Stadt in nur 36 Minuten. Was aber ist auf der anderen Seite des Tunnels anders? «Die Mentalität ist lockerer, das Essen ist gut und der Wein auch», sagt die Gemeindepräsidentin. Ihrer Meinung nach sind die Menschen im Tessin auch lebhafter als ihre Landsleute weiter nördlich: «Im Tessin wird gestreikt, hier wartet man.» Dank der Verhandlungen mit den SBB wird sich ihrer Einschätzung nach dennoch einiges ändern. So wurde vertraglich festgelegt, dass das SBB-Gelände wieder in die Hände der Gemeinde übergeht. Ausserdem stehen Garantien über den Erhalt der Arbeitsplätze bei den SBB auf dem Programm.
Am andern Tunnelende, in Bodio, sind die Rollläden im Albergo Stazione heruntergelassen. «Das mache ich, damit sich kein Graphitstaub absetzt», erklärt die Wirtin Tiziana Guzzi-Batzu, und zeigt auf die nahegelegene Fabrik. Hier ist das ständige Surren der Lastwagen zu hören, die über die Autobahn A2 rasen.
«Der erhoffte Aufschwung hat jedoch nie stattgefunden.»
Gemeindepräsident von Bodio
Auch in der Leventina hatte der Bau des Alp Transit, wie die Einheimischen den Tunnel nennen, Hoffnungen geweckt. Das Bauwerk, so glaubte man, würde der Wirtschaft der Region wieder auf die Beine helfen, die von der Inbetriebnahme der Gotthard-Autobahn 1980 und der Schliessung des Stahlwerks in Monteforno 1994 schwer getroffen worden war. «Der erhoffte Aufschwung hat jedoch nie stattgefunden», sagt Stefano Imelli, der seit 2016 Gemeindepräsident von Bodio ist. Dennoch erinnert er sich mit einer gewissen Rührung an die Einweihung des Tunnels an der Seite von François Hollande und Angela Merkel.
Imellis Vorgänger Marco Costi zieht eine ernüchternde Bilanz: «Wir haben nur wenig bekommen. Die Burgergemeinde musste einige Hektar Land an den Bund abtreten. Im Gegenzug erhielten wir Smog, Staub und Lärm.» In diesem Zeitraum machten in der Gemeinde zwei Bäckereien zu. Die Zeiten, in denen die Gemeinde die meisten Restaurants pro Kopf im Tessin hatte, sind lange vorbei.
Das einzige Positive ist, dass die Luftverschmutzung und der Lärm mittlerweile zurückgegangen sind. Stefano Imelli erinnert sich an den Verkehr auf der Gotthardpassstrasse. Es gab drei Brücken, auf denen die Kinder sie überqueren konnten, um in die Schule zu gelangen. Die Fabriken im oberhalb des Dorfes gelegenen Industriegebiet beschäftigen zahlreiche Arbeitskräfte. Die meisten kommen aus Norditalien und Sardinien. Ihre Freizeit verbringen sie auf Veranstaltungen, die von katholischen Verbänden, den Pfadfindern oder vom Fussballverein organisiert werden. Das Gemeindeleben floriert also. «Hier wird nicht zwischen uns und euch unterschieden», betont der Gemeindepräsident.
Bodio hat bereits erfolgreich um die Wiedereröffnung seines Bahnhofs gekämpft. Seit 2018 wird er wieder angefahren. Nun fordert die Gemeinde, dass die SBB bestimmte Schnellzüge auch in Biasca halten lassen. «Sobald es einen Bahnhof gibt, passiert auch etwas», sagt Marco Costi. In den Norden zieht es die Einwohner von Bodio kaum – und Stefano Imelli kennt zum Beispiel seine Amtskollegin in Erstfeld gar nicht.
Für manche gehört der Tunnel zum Alltag. So auch für Cédric Jacob, der als Zugführer bei den SBB arbeitet und technisches Personal in die beiden Röhren des Basistunnels begleitet. Sein 22 Meter langes Schienenfahrzeug ist mit einem klimatisierten Wohnmodul mit Esszimmer, Kaffeemaschine und WC ausgestattet. Die Eingriffe der Ingenieure und Arbeiter im Tunnel finden nachts statt. Je nach Jahreszeit schwanken die Temperaturen im Tunnel zwischen 32 und 44 °C. Ausserdem herrscht eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit. Aufgrund der Risiken müssen alle ständig wachsam sein. Und doch spricht Jacob von Routine: «Die Experten von den SBB haben in diesem Tunnel ein weltweit einzigartiges Fachwissen entwickelt.» Der seit 2016 im Tessin lebende Walliser versteht übrigens die Herausforderungen für seine Wahlheimat sehr gut: «Die Menschen hier sind Bergbewohner. Sie haben gelernt, in einer Umgebung zu leben, die rau sein kann und in welcher der Platz knapp ist.»
Kommentare
Kommentare :
https://de.wikipedia.org/wiki/Gotthardbahn
https://de.wikipedia.org/wiki/Gotthardtunnel
Gut ausgedrückt, beeindruckende Erklärung, danke.
It seems to me that people tend to have an over-optimistic view of these things. Big civil engineering projects bring a semblance of dynamic activity and invigoration while they are underway, but once they are completed, reality sets in once again. Once the motorway was built, Erstfeld and Bodio were destined to lose their passing trade (the motorway bypassed them), and I cannot see why building a railway tunnel would change that. Municipalities have to be realistic: their ambitions have to adapt to their circumstances. Villages have to be allowed to shrink to become self-supporting. Just because a municipality once had a heyday due to a particular "lucky" set of circumstances (Erstfeld and Bodio were on the main north-south road before the motorway), it does not mean they should be kept artificially "inflated" by the state once that heyday is over. Look at Göschenen: a tiny village expanded with the building of the Gotthard Scheiteltunnel, then shrank back down, then expanded again when personal mobility took off and cars started being transported by train through the tunnel, then shrank when the motorway tunnel was built. To sum up, neither Erstfeld nor Bodio were ever, nor will they ever become, destinations. They are places you pass through: the motorway and railway line have made them, like so many other places around the world, invisible. The municipalities would be well advised to live within their means and to match their ambitions to their realities. I wish them well, as I love the region both sides of the Gotthard.
Ich habe den Eindruck, dass die Menschen diese Dinge zu optimistisch sehen. Grosse Bauprojekte erwecken den Anschein von Dynamik und Belebung, während sie im Gange sind, aber sobald sie abgeschlossen sind, setzt die Realität wieder ein. Als die Autobahn gebaut wurde, waren Erstfeld und Bodio dazu bestimmt, ihren Durchgangsverkehr zu verlieren (die Autobahn umging sie), und ich kann nicht erkennen, warum der Bau eines Eisenbahntunnels daran etwas ändern sollte. Die Gemeinden müssen realistisch sein: Ihre Ambitionen müssen sich an ihre Gegebenheiten anpassen. Dörfer müssen schrumpfen dürfen, damit sie sich selbst versorgen können. Nur weil eine Gemeinde aufgrund bestimmter "glücklicher" Umstände einmal eine Blütezeit hatte (Erstfeld und Bodio lagen vor der Autobahn an der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung), bedeutet das nicht, dass sie vom Staat künstlich "aufgeblasen" werden sollte, wenn diese Blütezeit vorbei ist. Schauen sie mal Göschenen an: Ein kleines Dorf wuchs mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels, schrumpfte dann wieder, wuchs wieder, als die persönliche Mobilität zunahm und Autos mit dem Zug durch den Tunnel transportiert wurden, und schrumpfte wieder, als der Autobahntunnel gebaut wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass weder Erstfeld noch Bodio jemals Zielorte waren und auch nie sein werden. Sie sind Orte, die man durchfährt: Die Autobahn und die Bahnlinie haben sie, wie so viele andere Orte auf der Welt, unsichtbar gemacht. Die Gemeinden täten gut daran, mit ihren Mitteln zu haushalten und ihre Ambitionen an die Realitäten anzupassen. Ich wünsche ihnen alles Gute, denn ich liebe die Region auf beiden Seiten des Gotthards.
Ein am Eisenbahntunnel arbeitender Italiener dachte nach dem Durchstich - ich geh weiter. Er landete im Muotatal, heiratete und sorgte für einen zusätzliche Ast an unserem Familienbaum. Er und der Tunnel ermöglichten mein Dasein.
ganz sicher einer der tollsten Beiträge die ich bis anhin gelesen habe. Herzlichen Dank and den/die Verfasser!