Literaturserie
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In seinem Erstling «Gli Ostaggi» vermittelte Giovanni Bonalumi 1954 ein anschauliches Bild von einem katholischen Priesterseminar der 1930er-Jahre.
1931 wird der Locarneser Eisenbahnersohn Emilio nach dem Tod des Vaters ins Priesterseminar Lugano aufgenommen, um sich auf ein keusches Leben als katholischer Priester vorzubereiten. Zunächst tatsächlich gewillt, Kleriker zu werden, wirkt die sinnlich-lebendige Welt ausserhalb der Mauern des Internats so intensiv und verlockend auf den verträumten jungen Mann, dass er sich in der sterilen, von Askese und Repression bestimmten Atmosphäre wie eine Geisel Gottes vorkommt. Eine Ohrfeige des Präfekten, eine Art Verschwörung, bei der er allerdings nur eine Nebenrolle spielt, eine offensichtlich erotisch aufgeladene Massage durch den Rektor und vor allem die heimliche Verliebtheit in das frisch-fröhliche Bauernmädchen Ilaria, mit dem er allen restriktiven Vorkehrungen zum Trotz eine heimliche Beziehung aufnehmen kann – all das trägt dazu bei, dass Emilio am Ende bei aller Wehmut erleichtert darüber ist, dass er wegen Widerborstigkeit vom Seminar verwiesen wird.
Geschildert wird all dies im Roman «Gli Ostaggi» («Die Geiseln»), mit dem der 34-jährige Giovanni Bonalumi, Italienischlehrer am Gymnasium Locarno, 1954 im Florentiner Verlag Valecchi als Autor debütierte. Die Geschichte ist keineswegs erfunden, sondern beruht zum guten Teil auf eigenen Erlebnissen Bonalumis, der wie sein Emilio zwischen 1931 und 1941 Schüler des Seminario San Carlo di Lugano war und die Schule am Ende ohne Abschluss verliess. Allerdings nicht seines Verhaltens wegen, sondern auf eigenen Wunsch, und auch ohne, dass die Liebesgeschichte mit Ilaria in der Realität ein Pendant gehabt hätte. Während der Roman mit der Heimfahrt des Entlassenen endet, gelang es Bonalumi selbst, in Einsiedeln, also wieder in einem katholischen Internat, die Matura nachzuholen, in Freiburg Literatur zu studieren und nach Jahren als Lehrer und Übersetzer in Locarno von 1973 bis 1990 Professor für italienische Literatur an der Universität Basel zu werden.
Dass die Erzählung nicht zur Gänze der Fantasie des Autors entsprungen war, wussten auch die klerikalen Kreise im Tessin. Und deren Einfluss auf die öffentliche Meinung war 1954 noch so gross, dass der Roman, den man nicht als feinfühlige Darstellung einer Pubertät, sondern als Diskreditierung der Erziehungsmethoden des kantonalen Priesterseminars verstand, in den lokalen Medien weitgehend totgeschwiegen und mancherorts sogar von Gotteslästerung gesprochen wurde. In extremem Gegensatz dazu stand die Wahrnehmung in Italien und in der französischen Schweiz. In Lausanne wurde das Buch mit dem Charles-Veillon-Preis geehrt, in Italien feierte man es und sprach der Nobelpreisträger Eugenio Montale von der «Ehrlichkeit eines Schriftstellers, der vielleicht noch schüchtern ist, der aber unmöglich lügen kann».
«Sie senkte den Blick nicht. Fragte ohne jede Schüchternheit, wie viele wir seien im Seminar. Sie beobachte vom Hügel aus unsere Spiele auf dem Pausenhof, sagte sie. Abends sehe sie von ihrem Zimmer aus die Lichter in den Zellen. Ich zeigte auf die Fenster des Schlafsaals. ‹Wenn ich dich einmal vom Hof aus sehe, winke ich dir ...› Dieser Vorschlag schien ihr zu gefallen. Sie war gross und zartgliedrig, älter als fünfzehn konnte sie nicht sein.»
Bonalumi, der am 8. Januar 2002 in Locarno starb, publizierte neben gewichtigen literaturhistorischen Werken weitere Bücher wie den Roman «Per Luisa» («Für Luisa», 1972), in dem ein Locarneser Intellektueller während des Ungarnaufstands von 1956 eine schwere persönliche Krise durchlebt, oder den Erzählband «Il Profilo dell’eremita» («Das Gesicht des Eremiten», 1996), in dem für einmal Bonalumis Internatszeit in Einsiedeln thematisiert ist. Mit keinem späteren Buch aber hat er die Grösse des Erstlings «Gli Ostaggi» wieder erreicht, der in immer neuen Auflagen erschien, auf Deutsch und Französisch vorliegt und auch im Tessin längst als Klassiker der Schweizer Literatur gilt.
Bibliografie: Auf Italienisch ist «Gli Ostaggi» bei den Edizioni Casagrande, Bellinzona, greifbar. Die französische Übersetzung von Danielle Benzonelli ist bei Metropolis, Genf, lieferbar.
«Sie senkte den Blick nicht. Fragte ohne jede Schüchternheit, wie viele wir seien im Seminar. Sie beobachte vom Hügel aus unsere Spiele auf dem Pausenhof, sagte sie. Abends sehe sie von ihrem Zimmer aus die Lichter in den Zellen. Ich zeigte auf die Fenster des Schlafsaals. ‹Wenn ich dich einmal vom Hof aus sehe, winke ich dir ...› Dieser Vorschlag schien ihr zu gefallen. Sie war gross und zartgliedrig, älter als fünfzehn konnte sie nicht sein.»
Reprinted by Huber Nr. 28, Verlag Th.Gut, Zürich, 2010
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