Dass die Erzählung nicht zur Gänze der Fantasie des Autors entsprungen war, wussten auch die klerikalen Kreise im Tessin. Und deren Einfluss auf die öffentliche Meinung war 1954 noch so gross, dass der Roman, den man nicht als feinfühlige Darstellung einer Pubertät, sondern als Diskreditierung der Erziehungsmethoden des kantonalen Priesterseminars verstand, in den lokalen Medien weitgehend totgeschwiegen und mancherorts sogar von Gotteslästerung gesprochen wurde. In extremem Gegensatz dazu stand die Wahrnehmung in Italien und in der französischen Schweiz. In Lausanne wurde das Buch mit dem Charles-Veillon-Preis geehrt, in Italien feierte man es und sprach der Nobelpreisträger Eugenio Montale von der «Ehrlichkeit eines Schriftstellers, der vielleicht noch schüchtern ist, der aber unmöglich lügen kann».
«Sie senkte den Blick nicht. Fragte ohne jede Schüchternheit, wie viele wir seien im Seminar. Sie beobachte vom Hügel aus unsere Spiele auf dem Pausenhof, sagte sie. Abends sehe sie von ihrem Zimmer aus die Lichter in den Zellen. Ich zeigte auf die Fenster des Schlafsaals. ‹Wenn ich dich einmal vom Hof aus sehe, winke ich dir ...› Dieser Vorschlag schien ihr zu gefallen. Sie war gross und zartgliedrig, älter als fünfzehn konnte sie nicht sein.»
Klassiker der Schweizer Literatur
Bonalumi, der am 8. Januar 2002 in Locarno starb, publizierte neben gewichtigen literaturhistorischen Werken weitere Bücher wie den Roman «Per Luisa» («Für Luisa», 1972), in dem ein Locarneser Intellektueller während des Ungarnaufstands von 1956 eine schwere persönliche Krise durchlebt, oder den Erzählband «Il Profilo dell’eremita» («Das Gesicht des Eremiten», 1996), in dem für einmal Bonalumis Internatszeit in Einsiedeln thematisiert ist. Mit keinem späteren Buch aber hat er die Grösse des Erstlings «Gli Ostaggi» wieder erreicht, der in immer neuen Auflagen erschien, auf Deutsch und Französisch vorliegt und auch im Tessin längst als Klassiker der Schweizer Literatur gilt.
Bibliografie: Auf Italienisch ist «Gli Ostaggi» bei den Edizioni Casagrande, Bellinzona, greifbar. Die französische Übersetzung von Danielle Benzonelli ist bei Metropolis, Genf, lieferbar.
Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und Journalist in Zürich.
«Sie senkte den Blick nicht. Fragte ohne jede Schüchternheit, wie viele wir seien im Seminar. Sie beobachte vom Hügel aus unsere Spiele auf dem Pausenhof, sagte sie. Abends sehe sie von ihrem Zimmer aus die Lichter in den Zellen. Ich zeigte auf die Fenster des Schlafsaals. ‹Wenn ich dich einmal vom Hof aus sehe, winke ich dir ...› Dieser Vorschlag schien ihr zu gefallen. Sie war gross und zartgliedrig, älter als fünfzehn konnte sie nicht sein.»
Aus Giovanni Bonalumi: «Die Geiseln».
Ins Deutsche übersetzt von Giò Waeckerlin-Induni.
Reprinted by Huber Nr. 28, Verlag Th.Gut, Zürich, 2010
Kommentare