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  • Politik

Erst applaudierten die Menschen auf ihren Balkonen – jetzt aber belohnen sie die Pflegenden an der Urne

04.02.2022 – EVELINE RUTZ

Bessere Arbeitsbedingungen, mehr Autonomie, höhere Wertschätzung: Die Pflege wird in der Schweiz gestärkt. Die Initiative des Berufsverbands der Pflegenden hat an der Urne einen historischen Sieg errungen. Ihre Umsetzung wird allerdings noch zu reden geben.

Applaus allein reicht nicht. Mit diesem Slogan haben die Pflegenden in den letzten Monaten für bessere Bedingungen gekämpft. Eine Mehrheit des Schweizer Stimmvolks teilt ihre Ansicht. Rund 61 Prozent haben sich am 28. November 2021 für die Initiative «für eine starke Pflege» (siehe auch «Schweizer Revue» 5/2021) ausgesprochen. Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sagten mit 58,3 Prozent ebenfalls deutlich Ja.

Das Volks-Ja zur Pflegeinitiative fiel sehr deutlich aus. Die Fünfte Schweiz stimmte mit 58 Prozent ähnlich klar zu.

Das Resultat ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum ersten Mal ist es einem Volksbegehren aus gewerkschaftlichen Kreisen gelungen, auf nationaler Ebene zu reüssieren. Die Initiative ist zudem erst das 24. Volksbegehren in der Geschichte des Bundesstaates, das angenommen wurde. Sie erlangte ungewöhnlich hohe Zustimmung und mobilisierte stark. Die Stimmbeteiligung lag bei 65,3 Prozent und erreichte damit den vierthöchsten Wert seit 1971. Damals wurde das Wahl- und Stimmrecht für Frauen eingeführt. Dass sich viele Menschen an der Abstimmung beteiligten, hat auch mit dem Covid-Gesetz zu tun. Dieses stand am gleichen Tag zur Debatte und war hitzig diskutiert worden.

Ein Ja in fast allen Kantonen

Dass die Forderungen der Pflegebranche in der Bevölkerung auf viel Verständnis stossen, hatten Umfragen früh gezeigt. Unsicher war jedoch, ob der Vorstoss das Ständemehr – also die Zustimmung der Mehrheit der Kantone – schaffen würde. Diese Hürde, die Volksbegehren oft zum Verhängnis wird, überwand die Pflegeinitiative letztlich aber äusserst komfortabel: Bis auf Appenzell Innerrhoden haben ihr alle Kantone zugestimmt.

Dass es in der Pflege Reformen braucht, war allgemein unbestritten. Pflegende arbeiten zunehmend am Limit. Viele steigen vorzeitig aus dem Beruf aus – oft schon in jungen Jahren. Personalverantwortliche bekunden Mühe, Fachkräfte zu finden. Gleichzeitig wird eine alternde Gesellschaft in Zukunft auf zusätzliches Pflegepersonal angewiesen sein. Experten warnen daher: Ohne griffige Reformen dürften bis 2030 rund 65 000 Pflege-Mitarbeitende fehlen.

Pandemie verdeutlichte die Lage

Der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, SBK, hat seinen Lösungsansatz bereits 2017 vorgelegt. Dieser hat seinen durchschlagenden Erfolg auch Corona zu verdanken. Die zahlreichen Medienberichte aus Spitälern, Pflege- und Altersheimen haben der Bevölkerung vor Augen geführt, was Pflegende rund um die Uhr leisten. Vielen wurde bewusst, dass sie selbst oder Angehörige plötzlich auf Hilfe angewiesen sein könnten. In den Wochen vor dem Volksentscheid spitzte sich die pandemische Situation einmal mehr zu. Die Fallzahlen stiegen rasant und mit Omikron sorgte eine neue Virusvariante für Schlagzeilen. Und fast zeitgleich mit der Abstimmung mehrten sich Meldungen aus Spitälern, sie müssten in der Intensivmedizin wohl bald auf eine Triage setzen, also auf den harten Entscheid, wem man noch eine lebensrettende Behandlung gewähren könne und wem nicht.

«Nun erwarten wir von der Politik, dass unsere Anliegen ernst genommen und rasch umgesetzt werden.»

Yvonne Ribi

SBK-Geschäftsführerin

Ein Zeichen der Wertschätzung

«Gerade in der Krise zeigt das Pflegepersonal, was es leistet und wie wichtig seine Arbeit ist», sagte Gesundheitsminister Alain Berset am Abstimmungssonntag. Das deutliche Ja zur Vorlage sei ein Zeichen der Wertschätzung und des Dankes. Die Pflegenden jubelten. SBK-Geschäftsführerin Yvonne Ribi (siehe Rubrik «Herausgepickt») freut sich über die Solidarität der Bevölkerung. Mit den beschlossenen Massnahmen lasse sich der Pflegenotstand beseitigen, sagt sie: «Nun erwarten wir von der Politik, dass unsere Anliegen ernst genommen und rasch umgesetzt werden.»

Das bereits Klare rasch umsetzen

An sich wäre es nun am Bundesrat, einen Vorschlag zur konkreten Umsetzung der Initiative zu machen. Um schneller zu einem Ergebnis zu kommen, schlägt das Initiativkomitee jedoch einen anderen Weg vor: die vom Parlament bereits beschlossene und unbestrittene Aus- und Weiterbildungsoffensive möglichst rasch umzusetzen und den Bundesrat nur die restlichen Punkte klären zu lassen. Auch die vom Parlament im Sinne eines Gegenvorschlags zur Initiative bereits festgelegten neuen Regeln, unter welchen Bedingungen Pflegefachleute künftig Leistungen selbst anordnen und abrechnen können, müssen nach Meinung der Abstimmungsgewinnerinnen nicht mehr neu diskutiert werden. Es gelte sie rasch umzusetzen. Die Sozialdemokraten haben einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. Die Mitte schliesst nicht aus, für dieses Vorgehen Hand zu bieten. Deren Nationalrätin Ruth Humbel (AG) betonte gegenüber Radio SRF allerdings, dass dieser Weg ebenfalls Zeit brauchen werde. «Wenn dieser erste, unbestrittene Teil optimal läuft, dann kann er in zwei, drei Jahren in Kraft treten.» Kritische Stimmen sind im bürgerlichen Lager zu hören. FDP-Nationalrat Matthias Jauslin (AG) gibt zu bedenken, dass das Parlament Kompromisse eingegangen sei, um die Initiantinnen und Initianten zu einem Rückzug zu bewegen. Diese Beschlüsse seien nun wieder in Frage gestellt. «Der Gesetzgebungsprozess fängt jetzt noch einmal an.» Laut Initiativtext haben die beiden Kammern dafür vier Jahre Zeit.

Tarife und Personalfragen sind umstritten

Was dem Bundesrat beim zweigleisigen Vorgehen bliebe: Er müsste die weiteren Forderungen innerhalb von 18 Monaten konkretisieren und insbesondere aufzeigen, wie erreicht werden kann, dass die Pflegenden in ihrem Alltag zufriedener sind und länger im Beruf bleiben. Er wird sich etwa mit den Löhnen und den Zuschlägen für die Nacht- und Sonntagsarbeit befassen müssen, sowie mit dem Personalschlüssel, also der Festlegung der Zahl der Pflegenden auf eine bestimmte Zahl von Patienten. In diesen Bereichen mehrheitsfähige Lösungen zu finden, dürfte nicht einfach werden. «Wir werden den Druck hochhalten», kündigt Yvonne Ribi an. Das Komitee werde nicht zulassen, dass die Initiative in der politischen Debatte verwässert werde. Die Gegnerschaft verspricht ihrerseits, die Kosten im Blick zu behalten. Diese dürften sich nicht ausweiten, was das Ja-Lager im Abstimmungskampf zugesichert habe.

Die Stimme der Kantone

Wann und wie das Volksbegehren in der Praxis Wirkung entfalten wird, hängt aber nicht allein vom Bund ab. Er hat lediglich die Kompetenz, Leitlinien vorzugeben. Für die Umsetzung sind die Kantone und teilweise die Gemeinden zuständig. Diese föderale Struktur erschwert es, Reformen rasch und einheitlich umzusetzen. Bis die Pflegenden in ihrem Berufsalltag Veränderungen wahrnehmen werden, dürfte es daher noch ein paar Jahre dauern.

Zweites Ja zur Corona-Politik

Schon zum zweiten Mal haben die Stimmberechtigten die Corona-Politik von Bundesrat und Parlament unterstützt. Mit 62 Prozent hiessen sie das Covid-19-Gesetz gut, das unter anderem die Zertifikatspflicht sowie Wirtschaftshilfen regelt. Die Fünfte Schweiz sagte sogar mit 68,5 Prozent Ja. Nach einem teilweise gehässigen Abstimmungskampf sprachen Beobachter von einem Vertrauensvotum für den behördlichen Umgang mit der Pandemie. Das Resultat fiel deutlicher aus als im Juni, als das Gesetz zum ersten Mal zur Abstimmung gelangte. Damals machten die Ja-Stimmen 60,2 Prozent aus. Die Schweiz ist weltweit das einzige Land, in dem das Volk über Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie abstimmen kann. Der Abstimmung über das Corona-Gesetz gingen zahlreiche – zum Teil auch gewaltsame – Proteste von Massnahmen-Kritikern voraus.

Keine Richter-Wahl im Losverfahren

Die so genannte Justiz-Initiative scheiterte mit 68,1 Prozent Nein-Stimmen deutlich. Sämtliche Kantone lehnten den Vorschlag ab, die Mitglieder des Bundesgerichts künftig per Los zu bestimmen. Auch 65,3 Prozent der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer stimmten dagegen. Der Einfluss der Parteien bleibt damit unverändert. Richterinnen und Richter müssen in der Schweiz zwingend einer Partei angehören und dieser eine Mandatssteuer zahlen. (ERU)

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