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Es ist das heisseste Dossier in Bundesbern, und ein Jahr vor den Wahlen ist die Lust vieler Politiker spürbar gesunken, sich daran die Finger zu verbrennen: Das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Was trocken tönt, ist im Kern aber der Schlüssel zur Weiterentwicklung des bisherigen bilateralen Wegs.
Wagt der Bundesrat den innenpolitischen Hosenlupf? Oder kapituliert er kurz vor der Ziellinie? Auf diese Fragen spitzte sich das jahrelange Bemühen um eine Lösung der institutionellen Fragen mit der Europäischen Union (EU) diesen Spätsommer zu. Die Antwort des Bundesrats kam Ende September: Weder noch. Er will zwar weiterverhandeln und mit der EU möglichst rasch eine Einigung erzielen, um den erfolgreichen bilateralen Weg in die Zukunft zu retten. Konzessionen bei der Ausgestaltung der flankierenden Massnahmen zur Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping, wie sie Brüssel zuletzt ziemlich ultimativ verlangt hat, will der Bundesrat indessen keine machen. Wenigstens vorerst nicht. Nicht gegen den innenpolitischen Widerstand, der sich über den Sommer aufgebaut hat.
Im Herbst startete eine letzte Verhandlungsrunde geprägt von der Ungewissheit, ob es unter diesen Vorzeichen überhaupt zu einer Einigung kommen kann. Wenn nicht, würde das Rahmenabkommen ironischerweise nicht primär am Widerstand der SVP gegen die verpönten «fremden Richter» scheitern, sondern am Widerstand der Gewerkschaften und der SP gegen alternative, von der EU akzeptierte Formen des Lohnschutzes.
Um diese Frage zu verstehen, muss man zu den Ursprüngen zurück. Und sie liegen in der Schweiz. Die Idee eines Abkommens, das einen gemeinsamen Rahmen für das immer komplexere bilaterale Vertragswerk zwischen Bern und Brüssel setzen soll, taucht 2002 erstmals im Ständerat auf. 2006 erwähnt der Bundesrat die Option eines Rahmenabkommens in einem Europa-Bericht. 2008 macht schliesslich die EU ihrerseits klar, dass sie nicht länger bereit ist, mit dem Bilateralismus weiterzufahren wie bisher. Sie will eine einheitliche Anwendung des EU-Rechts durch die Schweiz sicherstellen, die dank den Bilateralen einen privilegierten Zugang zum Binnenmarkt geniesst, obschon sie weder Mitglied der EU noch des EWR ist. Brüssel denkt dabei nicht zuletzt an die seit Jahren ungelöste Streitigkeit bezüglich einzelner flankierenden Massnahmen der Schweiz, die in den Augen der EU nicht kompatibel sind mit dem Abkommen zur Personenfreizügigkeit; es ist dies unter anderem die achttägige Voranmeldefrist für ausländische Firmen, die Arbeiter für kurze Einsätze in die Schweiz entsenden wollen, die sogenannte Acht-Tage-Regel. In den folgenden Jahren wird die EU je länger, je mehr auf einer Lösung der institutionellen Fragen bestehen. 2012 lässt sie die Schweiz wissen, dass es ohne Rahmenvertrag keine neuen bilateralen Verträge mehr geben wird. Im Mai 2014 beginnen die Verhandlungen. Ende 2017 verliert die EU erstmals die Geduld und straft die zögerlichen Schweizer ab: Sie anerkennt die Schweizer Börsenregulierung nur für ein Jahr, die Verlängerung will sie von Fortschritten beim Rahmenabkommen abhängig machen. Der Paukenschlag löst in Bern neue Dynamik aus, man fürchtet sich vor weiteren, wirtschaftlich schädlichen Nadelstichen.
Im Kern geht es um zwei Dinge: die dynamische Rechtsübernahme und die Streitbeilegung.
Die bestehenden bilateralen Abkommen, mit Ausnahme von jenem zu Schengen/Dublin, sind statisch angelegt. Das EU-Recht entwickelt sich aber ständig fort. Die Schweiz passt ihr nationales Recht zwar schon heute regelmässig an neues EU-Recht an, zumal dort, wo ihr dies nötig erscheint, um den ungehinderten Zugang der Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt sicherzustellen, Beispiel: Börsenregulierung. Neu soll es aber eine institutionalisierte, eine dynamische Rechtsübernahme geben.
Heute thematisieren Bern und Brüssel ihre Differenzen im Gemischten Ausschuss, einem politisch-diplomatischen Gremium. Findet man sich nicht, gibt es keine rechtlichen Möglichkeiten, um eine Einigung zu forcieren. Politisch ist aber jede Seite frei, Retorsionsmassnahmen zu ergreifen, um Druck auf die Gegenseite auszuüben. Damit gilt letztlich das Recht des Stärkeren. Neu soll es eine Gerichtsbarkeit geben, um einen Streit beizulegen.
In den bisherigen Verhandlungen hat man sich – auf Drängen der Schweiz – darauf geeinigt, dass das Rahmenabkommen nur für fünf der rund 120 bilateralen Abkommen gelten soll. Und zwar für jene, die den Zugang der Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt regeln. Es sind dies die Abkommen über die Personenfreizügigkeit, die technischen Handelshemmnisse, den Luft- und Landverkehr sowie die Landwirtschaft. Auch künftige Marktzugangsabkommen sollen unter den Rahmenvertrag fallen. Zu denken ist etwa an das Strommarktabkommen, das die Schweiz gerne abschliessen würde.
Die Schweiz würde sich im Grundsatz verpflichten, neues EU-Binnenmarktrecht stets zu übernehmen, statt es wie bisher fallweise autonom nachzuvollziehen. Sie erhält im Gegenzug ein Mitspracherecht bei der Weiterentwicklung des EU-Rechts und eine ausreichend lange Frist, um ihr nationales Recht gemäss ihren direkt-demokratischen Spielregeln anzupassen. Das letzte Wort hätte folglich weiterhin das Schweizer Volk. Lehnt es die Übernahme neuen EU-Rechts in einem konkreten Fall ab, könnte die EU freilich Retorsionsmassnahmen ergreifen. Anders als heute würde der Rahmenvertrag aber sicherstellen, dass diese verhältnismässig wären.
Im Verhandlungsmandat von 2013 hatte der Bundesrat festgelegt, dass Streitigkeiten vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelöst werden sollen. Das stiess innenpolitisch jedoch zunehmend auf Widerstand. Schliesslich bot die EU der Schweiz an, statt über eine EuGH-Lösung neu über eine Schiedsgerichtslösung zu verhandeln. Damit wurde die Debatte über die «fremden Richter» entschärft, zumal das Schiedsgericht aus einem von der Schweiz und einem von der EU bestimmten Richter sowie einem gemeinsam ernannten Präsidenten bestünde. Allerdings wird auch diese Lösung nichts daran ändern, dass der EuGH für die Auslegung von EU-Recht massgebend bleibt.
Noch ungelöst sind Fragen rund um die sogenannte Unionsbürger-Richtlinie der EU. Die Schweiz hat es bisher abgelehnt, sie zu übernehmen, da sie Folgen hätte für den Familiennachzug, den Zugang zur Sozialhilfe und die Ausweisung von EU-Bürgern. In Reichweite scheint derweil ein Konsens bei der Regelung staatlicher Beihilfen. Dazu gehören nicht nur Subventionen, sondern auch Steuererleichterungen oder staatliche Firmenbeteiligungen, wie sie insbesondere in den Kantonen verbreitet sind. In der EU sind solche Beihilfen hingegen verpönt, sofern sie den grenzüberschreitenden Wettbewerb verzerren. Als grösster Knackpunkt verbleiben jedoch die flankierenden Massnahmen. Nähern sich hier die Positionen zwischen Bern und Brüssel nicht an, würden alle anderen Verhandlungserfolge der Schweiz hinfällig. Denn es gilt auch hier, was bei Verhandlungen stets gilt: «Nothing is agreed, until everything is agreed», also «nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist».
Kommentare
Kommentare :
Bitte erlauben Sie mir die direkte Frage: Wo, ums Himmels willen
fährt auch die Schweiz ein Sonderzüglein? Die Akte Griechenland zeigt auf, dass dieses Land zu früh und auf Grund falscher Wirtschaftszahlen in den Euro eingetreten ist. Dank dem Euro (Tourismus) ist die Wachstumsrate in Griechenland derzeit mit 2,0% sicher so gut wie in merry old Switzerland.
War da noch was? Ach ja doch: In der Schweiz werden die Bauern in der voralpinen Hügelzone dafür bezahlt, dass diese die Kuhfladen auf der Weide zusammenkratzen und zu Häuflein aufschichten. Mehr noch, bitte zeigen Sie mir ein hochentwickeltes Land, das ein Rebbaukataster führt, etc. etc
In Anbetracht diesen Umstände halte ICH MICH mit Kritik an anderen Staaten strikte zurück. - Erwin Balli
Sind Sie sich bewusst, wie viel die Schweiz der ach so bösen EU
verdankt? Jahrzehntelangen Frieden und Ordnung in Europa: Nichts als das braucht ein Exportland wie die Schweiz. Bewegungsfreiheit für alle. etc. etc.
Sind Sie sich der globalen Situation in Bezug auf Erderwärmung bewusst? Dass diesbezüglich die Uhr auf zwei Minuten vor zwölf steht. Und das gemäss führenden Wissenschafter. Das heisst für jeden von uns Verzicht auf viele angenehme Dinge und Gewohnheiten.
Wer anders als eine grosse Institution wie die EU kann die sofort notwendigen, einheitlichen Massnahmen einleiten und auch kontrollieren? Zum Beispiel ein Verbot für Wegwerfplastik. Ich erwarte doch, dass da die ""unabhängige"" Schweiz auch ein Sonderzüglein fahren will. Wie könnte es auch anders sein?
Ach ja, noch etwas: Analysieren Sie den organisatorischen Zustand der Schweiz nach 700 Jahren Entwicklungszeit und den der EU nach knapp 50 Jahren Entwicklungszeit. Ich habe dies getan und bin glücklich mit demjenigen der EU.
Ich hoffe, die Schweizer bleiben weiterhin vernünftig und unterwerfen such nicht der EU in Brüssel !
etc.etc.
Vielleicht ist Ihnen bewusst, dass der Planet in knapp 200 Jahren unbewohnbar sein wird, wenn nicht alle möglichen Massnahmen getroffen werden. Daher besser eine Massnahme zuviel, als einfach so weiter.
Jeder Schweizer, gross oder klein, muss sich, sofern er in der Lage ist vernünftig zu denken, bewusst sein,
- Dass die Schweiz ganze 1,6% der EU-Bevölkerung darstellt.
- Dass die Schweiz wirtschaftlich von Europa, also von der EU abhängig ist.
- Dass die Schweiz in einigen Jahren kniend in Brüssels um Aufnahme bitten wird.
- dass die EU das einzige Vehikel ist um gesamtheitlich die Probleme der Zukunft zu meistern.
- Dass wir dieser Instanz ganze 70 (siebzig) Jahre Frieden in Europa zu verdanken haben.
Wir haben in merry old Switzerland längst noch nicht alle Probleme gelöst. Trotz zehnmal längerer Entwicklungszeit.
MERKE DAHER, DEN ERSTEN STEIN WIRFT NUR, ABER AUCH NUR DER-
JENIGE, DER DA ALLES ERLEDIGT HAT.
The EU should sort out corporate tax competition between its member states before insisting other countries (like Switzerland) do the same. Stop countries like Ireland and Holland offering tax incentives for companies. It maybe frowned upon but it is rife throughout the EU, creating a low tax culture where the Amazon's and Starbucks pay pepper corn tax.
Nous avons ete entoure pratiquement pendant toute notre histoire par des pays qui ne nous voulaient pas touojours du bien, et nous avons su garder notre independence. Nous voulons aujourd'hui etre les gentils, en fait, nous
sommes devenus les mous, sans fierte. Que la Suisse reprenne du nerf, comme en 1939!
Si l'article en allemand est très bien écrit, sa traduction n'est pas de bonne qualité. Elle n'a visiblement pas été réalisée par une personne familière de la politique suisse. C'est fort dommage pour un sujet aussi sensible que la politique européenne...
Veuillez excuser mon ignorance mais depuis quand avons-vous une 'Confederation bernoise' !?
C'est quoi la démo (peuple) cratie (pouvoir)? a-t-elle jamais existé? De tout temps, le peuple se fait mener par le bout du nez, maintenant par média interposé, par groupes de pression etc.
L'avantage de l'UE c'est d'avoir des règles qui soient les mêmes dans plusieurs pays. Cela les rend automatiquement moins arbitraires.
Il est nettement plus facile de mettre d'accord deux ou trois personnes sur un mauvais accord qu'une centaine!
Es gibt aber genau zwei Aspekte der Schweiz, die keinesfalls einer EU-Annäherung zu "opfern" sind. Nämlich das Referendums- und Initiativrecht! Nicht weil das Tradition ist, sondern weil damit Regierung und Parlament ein Korrektivum hinter sich wissen und somit vernünftige Entscheidungen treffen müssen. Nicht mehr und nicht weniger.
PS: Ich würde es begrüssen, wenn hier in diesem Forum jeder mit seinem Namen einsteht. Das wäre eine echte schweizerische Tradition die erhaltenswert ist. Unter Pseudonymen kann jeder hier seinen Quatsch und Frust abladen. Dafür ist so ein Forum eigentlich zu schade.
Die Schweizer wollen keine Befehle aus Brüssel empfangen.
Die Schweizer sind gegen automatische Uebernahmen von Gesetzen.
Die Schweizer sind gegen fremde Richter.
Die Schweizer sind gegen den furchtbaren Familiennachzug.
Die Schweizer sind für flankierende Massnahmen zum Lohnschutz.
Noch Fragen?
Irgendwann wird der Schweizer, wohl oder übel, in die EU gehen müssen. Zur Zeit können wir noch verhandeln, jedoch das Gegenteil ist absehbar. Denn:
- Nur die EU ist ein wirtschaftlich und militärisch realer Gegenpool zu USA/China, Russland.
- Die prekäre Situation in Bezug auf
- Umweltzerstörung
- Resistente Keime
- Flüchtlingsprobleme
- Insektensterben etc. etc.
können nur im grossen Verbund gelöst werden. Da wird, nur in Bezug auf Umweltschutz, mit Verboten gerechnet werden müssen.
Die Rechtsprechung sollte ebenfalls unilateral gelöst werden.
Die Besteuerung von multinationalen Firmen, deren Steuervermei-
dungstricks kann man ebenfalls nur im grossen Kontext lösen.
Ob es dem Herrn Schweizer passt oder nicht, er wird gezwungen sein, wenn auch nur um Millimeter über seinen Tellerand zu sehen