Gesellschaft
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In der zweiten Corona-Welle blieben Bund und Kantone lange bei einem moderaten Mittelweg, um Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu stark einzuschränken. Es gelang damit nicht, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Ungewöhnlich viele ältere Menschen starben.
Anfang Februar, wenn diese Ausgabe der «Schweizer Revue» erscheint, werden in der Schweiz die Ersten gegen das Corona-Virus geimpft sein. Die Eindämmung der Pandemie dürfte damit einen entscheidenden Schritt weiter sein. Doch im Advent, als diese Zeilen hier entstanden, präsentierte sich die Situation sehr angespannt. Hatte die Schweiz die erste Welle glimpflich überstanden, wurde sie mit der zweiten Welle unerwartet zu einem europäischen CoronaHotspot. Die Institutionen zeigten sich zerstritten wie selten. Und das altbewährte Selbstbild der Schweiz als ein Ort, wo alles immer funktioniert, bekam Risse. Was war geschehen? Der Versuch einer Rekonstruktion – im Wissen darum, dass nach Redaktionsschluss manches wieder neue Wendungen nehmen würde.
Im Frühsommer endete für den Bundesrat das in Notlagen geltende Recht, praktisch autonom zu entscheiden. Das Krisenmanagement lag somit nicht länger bei ihm, sondern wieder bei den Kantonen. In der föderalistisch organisierten Schweiz sind diese für das Gesundheitswesen zuständig – und sie forderten angesichts der stark zurückgegangenen Infektionszahlen ihre Führungsrolle zurück. Der Bundesrat blieb fortan in der Reserve, mitunter demonstrativ, auch als im Oktober die zweite Corona-Welle anrollte. Die Regionen waren zunächst unterschiedlich betroffen. Mehrheitlich herrschte die Meinung vor, massgeschneiderte Reaktionen vor Ort seien am sinnvollsten.
Doch die Fallzahlen stiegen drastisch an und erreichten Anfang November mit fast 10'000 Neuansteckungen an einem Tag den Höchststand. Ende Oktober griff der Bundesrat erstmals wieder stärker ein und erliess Regelungen fürs ganze Land, darunter eine Ausweitung der Maskenpflicht und das Verbot von Grossveranstaltungen. Markanter war jedoch, was nicht kam: Auf einen Teil-Lockdown, wie ihn vorab Westschweizer Kantone mit besonders hohen Fallzahlen für ihr Gebiet verfügt hatten, verzichtete der Bundesrat. Restaurants und Läden durften mit gewissen Beschränkungen offenbleiben. Damit unterschied sich die Schweiz von den Nachbarstaaten, trotz höherer Fallzahlen im Verhältnis zur Bevölkerung. Der sozialdemokratische Gesundheitsminister Alain Berset vertrat den Entscheid der mehrheitlich bürgerlichen Regierung in der Öffentlichkeit. Er sagte, es gehe um einen «eigenen Weg» für die Schweiz. Der Bundesrat wolle die Gesundheit schützen, «aber ohne unnötigen Schaden für Gesellschaft und Wirtschaft». Der Branchenverband Gastrosuisse und der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse zeigten sich erleichtert. Ziel der Behörde war es, die Fallzahlen bis Weihnachten alle zwei Wochen zu halbieren. In einem ersten Schritt gelang dies, die Kurve zeigte im November abwärts.
Die Schweiz vermochte sich aber nicht aus der Gefahrenzone zu bewegen, auch weil Deutschschweizer Kantone der Pandemie wenig entgegensetzten, sehr zum Unwillen des Bundesrats. So herrschte im kleinen Land mit seinen 26 Kantonen und Halbkantonen eine verwirrliche Vielzahl diver- gierender Vorschriften. In der Bevölkerung nutzten sich die Appelle an die Selbstdisziplin sichtlich ab. Anfang Dezember stagnierten die Fallzahlen auf hohem Niveau und begannen in fast allen Kantonen wieder anzusteigen. Die Entwicklung belastete die Spitäler und Pflegeheime, die Plätze auf den Intensivstationen wurden knapp. In der Todesfallstatistik hinterliess die zweite Welle tiefe Spuren: Überdurchschnittlich viele ältere Menschen starben an Covid-19. Die Schweizer Corona-Todesrate war im internationalen Vergleich hoch, trotz bestem Gesundheitssystem. Es stürben zum grössten Teil über 80-Jährige, antwortete der Schweizer Finanzminister Ueli Maurer, als er im November darauf angesprochen wurde. Die Regierung habe eine «Güterabwägung» vorgenommen, so der Magistrat der rechtskonservativen SVP. Aus Protest gegen die in ihren Augen gleichgültige Haltung in Politik und Öffentlichkeit zündeten engagierte Bürgerinnen und Bürger auf dem Bundesplatz Kerzen an. Bis zu Weihnachten erlagen seit Beginn der Pandemie weit über sechstausend Menschen dem Virus.
Je mehr sich die Situation zuspitzte, desto kontroverser wurde die Debatte. Nicht nur Epidemiologinnen rieten den Behörden jetzt, die Seuche entschiedener zu bekämpfen, auch Ökonomen taten das. Es nütze der Wirtschaft nichts, wenn die Bevölkerung krank sei. Die politischen Parteien, die sich im Frühjahr alle hinter den Bundesrat gestellt hatten, legten während der Wintersession im Bundeshaus ihre Zurückhaltung ab. SP und Grüne forderten schärfere Massnahmen und eine grosszügigere Abfederung wirtschaftlicher Folgen beim Gewerbe. FDP und SVP hingegen stellten sich vehement gegen restriktive und flächendeckende Eingriffe. Mit Erfolg: Die Schweizer Skigebiete durften öffnen, während Europa noch um eine gemeinsame Regelung rang.
Die Medien hinterfragten den Schweizer Weg zunehmend. «Minimalistische Massnahmen gegen Covid, die Skiorte bekommen ihr Weihnachtsgeschäft – welche Werte sind für die Schweiz eigentlich noch unverhandelbar?», fragte das Online-Magazin Republik. «Warten ist tödlich», befand selbst die «Neue Zürcher Zeitung», die das liberale und regional differenzierte Vorgehen gegen die Pandemie grundsätzlich begrüsste. Im Rückblick sei es ein Fehler gewesen, dass Bund und Kantone nicht früher mit griffigen Massnahmen auf den Anstieg der Fallzahlen reagiert hätten.
Die Grenzen der Eigenverantwortung in einer hochansteckenden Pandemie, das träge Schweizer Regierungssystem, unkoordinierter Föderalismus, Versäumnisse beim rechtzeitigen Aufbau einer Strategie gegen die zweite Welle, Vorrang kleinteiliger Lobby-Interessen vor epidemiologischer Vernunft, Furcht vor den finanziellen Folgen eines Shutdowns: Das waren Faktoren, die im Inland als Gründe fürs Corona-Debakel genannt wurden. Auch im Ausland blickte man verwundert auf das large Schweizer Pandemie-Regime. Die Weltgesundheitsorganisation äusserte sich tadelnd. Die Schweiz stelle Sparsamkeit vor Menschenleben, trotz tiefster Staatsverschuldung, titelte die renommierte US-Zeitschrift «Foreign Policy». Und das deutsche Magazin «Der Spiegel» beobachtete einen Schweizer Unverwundbarkeitsglauben, der sich wohl historisch erklären lasse.
Der Druck auf den Bundesrat wuchs. Vor den Festtagen schlugen die grossen Spitäler öffentlich Alarm. Das Personal sei erschöpft. Daraufhin nahm die Landesregierung das Heft in die Hand und verschärfte schweizweit die Regeln. Restaurants, Sportanlagen, Museen und Freizeiteinrichtungen mussten schliessen. Zugleich wurden die Finanzhilfen um 1,5 Milliarden Franken aufgestockt. Die Infektionen müssten zurückgehen, beschwor Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga die Bevölkerung: «Es braucht jetzt das ganze Land.» Die Anordnungen waren allerdings nicht frei von Widersprüchlichkeiten. Die Läden blieben offen, die Skipisten in den Tourismuskantonen ebenfalls. Ein kühles Zeichen kam derweil vom Weltwirtschaftsforum WEF, das traditionell in den Bündner Bergen stattfindet. Es verlegte die Hauptveranstaltung 2021 nach Singapur. Die epidemische Lage in der Schweiz war der Wirtschaftselite zu heikel geworden.
Aktuelle Informationen: www.sciencetaskforce.ch
Kommentare
Kommentare :
Bitte besser recherchieren und genauere Zahlen verbreiten. Wieso gibt es nur noch Journalisten, die die politische Meinung verbreiten?
Die Restritktionen sind in keinem Verhältnis zu dem Schaden, die sie anrichten. Alte Menschen sterben einsam, Kinder werden terrorisiert und in ihrer Entwicklung gehindert etc. Psychische Krankheiten, die Sucht und andere abnormales Verhalten nehmen zu. Anstelle sich gesund zu verhalten werden wir eingesperrt wegen wenigen Menschen. Jede Krankheit muss ernst genommen werden nicht nur dieser Virus. Wir sind überaltert und so ist es nicht nur normal, dass mehr Menschen sterben. Wir können nicht ewig leben. So ab 84 Jahre sind unsere Tage gezählt. Also was soll dieser Artikel? Die Politik sollte sich nicht in unsere Gesundheit einmischen. Dazu sind wir selber verantwortlich. Sie greifen auch nicht ein wenn viele Menschen wegen resistenten Keimen in den Spitälern sterben, oder wegen Krebs, Verfettung etc. Wir sind erwachsene Menschen und können für uns selber verantwortlich sein.
Liebe Frau Brunner, herzlichsten Dank für Ihren Kommentar. Ich wollte eben auch grad einen schreiben und hab mich gefreut, dass Sie vieles geschrieben haben, dass ich auch gerne schreiben wollte. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben und die verschiedenen Argumente präsentiert haben. Ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden und kann jedes Argument von Ihnen unterschreiben.
Ich möchte gerne folgende Fragen für Revue Suisse hinzufügen:
1. Was ist das Ziel von Revue Suisse? Sie haben doch gerade eben eine Umfrage durchgeführt und uns die Ergebnisse präsentiert. Leserinnen und Leser von Revue Suisse wünschen pertinente Informationen, aber auch emotionale Texte, wie zum Beispiel Reportagen, die uns einen kleinen Glimpse ermöglicht, was in der Schweiz zur Zeit "abgeht". Ich frage mich inwiefern dieser Artikel uns ausgewogene Informationen über den Umgang der Schweiz mit der aktuellen gesellschaftlichen Kriese gibt? Ich erwarte von Revue Suisse, dass sie unsere Perspektive einnimmt? Wir sitzen alle in Länder, die höchstwahrscheinlich noch schärfere Massnahmen hinnehmen muss als die Schweiz. Viele sind wahrscheinlich froh zu wissen, dass die Schweiz etwas mehr Pragmatismus zeigt oder sie sind zumindest neugierig zu erfahren, wie die Schweiz, als einziges Land mit einer stärkeren Beziehung zu ihren Bürgerinnen und Bürger, dank der direkten Demokratie, mit dieser gesellschaftlichen Kriese umgeht.
2. Ich schlage vor, dass Sie Frau Wenger den Artikel revidieren und versuchen den Artikel aus Sicht der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zu schreiben. Was bewegt denn die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in dieser Kriese? Haben Sie eine Umfrage gemacht zu den Meinungen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zur Kriese?
3. Meine junge Journalisten Kollegin Yael Debelle hat sich anfangs Januar das Leben genommen, weil sie als bereits vor der Kriese vulnerable Person, die Massnahmen nicht mehr aushalten konnte. Sie hat im Juli 2019 einen interessanten Artikel zum Thema "Zweifeln sind unangenehm, aber gesund" geschrieben. Ich bin vollkommen mit ihr einverstanden, auch Journalisten können gerne mal zugeben, dass sie auch zweifeln, ob der Artikel nicht doch etwas einfältig ist - das Gegenteil eben von zwiespältig...
Es scheint die Journalisten übernehmen nur was die Politik vorgibt. Wer die Statistiken genau anschaut und nicht nur die Zahl kommt auf ganz andere Ergebnisse. Warum werden trotz angeblich dieser überlasteten Spitälern Operationen durchgeführt, die auch auf später verschoben werden können und warum werden laufend Spitäler geschlossen? Irgendwie hinkt dies mit der Ueberlastung der Spitäler. Berücksichtigt man die Altersstatistik, d.h. es gibt mehr ältere Menschen (also eine Überalterung) so ist es nicht nur normal, dass es mehr Menschen gibt die wegen ihrem Alter sterben. Dürfen Alte Menschen nie sterben? Viele ältere Menschen können endlich gehen wenn noch zum Beispiel eine Lungenentzündung oder sonst eine Krankheit dazu kommt. Dies ist der normale Werdegang des Menschen. Eigentlich erwarte ich von den Journalisten viel genauere Recherchen und nicht all die angstmachenden Informationen. Es ist in keinem Verhältnis all diese Restriktionen gegenüber all den gesunden Menschen, die nun psyhisch krank werden. Ganz zu schweigen von den Kindern, die so in ihrer Entwicklung gehindert werden. Wie sollen die unser Land später führen?