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Schweizer Medienkonzerne kürzen unter wirtschaftlichem Druck beim Lokaljournalismus. Das wird zum Problem für die Demokratie. Doch der 150-jährige «Unter-Emmentaler» berichtet weiterhin aus den Gemeinden – und trotzt erfolgreich der Krise.
Wer den «Unter-Emmentaler» im bernischen Huttwil besucht, wird von einer Mitarbeiterin der Schürch Druck & Medien AG durch die laute Druckerei geführt. Eine steile, verwinkelte Holztreppe im hinteren Teil des Gebäudes führt zur Redaktion und zu einem kleinen Sitzungszimmer mit Porträts der Gründerfamilie an der Wand. Das 1875 gegründete Unternehmen ist bis heute in Familienbesitz. Als der «Unter-Emmentaler» kürzlich eine Redaktionsstelle ausschrieb, bezeichnete er sich als «eine der letzten unabhängigen Lokalzeitungen der Schweiz».
An diesem Novembernachmittag sind die meisten Arbeitsplätze leer, die Journalistinnen und Journalisten im Schneetreiben unterwegs. Sechs Redaktionsmitglieder teilen sich 510 Stellenprozente und füllen mit zehn freien Mitarbeitenden zwei Ausgaben pro Woche. Das Verbreitungsgebiet umfasst Teile des Emmentals und des Oberaargaus im Kanton Bern sowie des Luzerner Hinterlandes. Walter Ryser, ein erfahrener Lokaljournalist, kennt die Gegend bestens.
Als Leiter Medien beim Unternehmen berät Ryser die Geschäftsleitung strategisch und verfasst Artikel für den «Unter-Emmentaler». Daneben betreibt er eine kleine Werbeagentur und engagiert sich in Kultur- und Sportvereinen. Er beschreibt die Region als «ländlich-konservativ» und sagt: «Hier werden Traditionen bewahrt, das Leben verläuft gemächlich – ein guter Nährboden für Lokaljournalismus.» Aber auch die Stadt Langenthal gehört heute zum Einzugsgebiet. «Schon zwischen Langenthal und Huttwil liegen Welten», erklärt Rysers Kollege Thomas Peter, Redaktionsleiter des «Unter-Emmentalers».
Vielfalt auf kleinem Raum, typisch für die Schweiz. «Journalistisch ist das ein Balanceakt», sagt Peter. Doch die Zeitung meistert ihn bewusst. «Wir machen, was die grossen Verleger vernachlässigen: echten Lokaljournalismus», betont Ryser. Er spricht damit die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre an. Die Schweiz zeichnete sich lange durch eine fein verästelte Medienlandschaft aus, ein bedeutender Teil der föderalen Struktur. Doch seit der Jahrtausendwende lässt die Digitalisierung das Geschäftsmodell der Zeitungsverlage einbrechen. Sparrunden und Fusionswellen trafen besonders den Lokaljournalismus.
Mindestens 70 Titel verschwanden zwischen 2003 und 2021. Die Blätter wurden eingestellt oder in zentral gesteuerte Redaktionen grösserer Medienunternehmen integriert. Zu diesen gehört die Zürcher Tamedia, die auch Titel im Kanton Bern und der Romandie besitzt. Letzten Herbst verkündete Tamedia einen erneuten markanten Stellenabbau und weitere Zusammenlegungen. Ziel sei es, mit den grössten publizistischen Titeln digital zu wachsen, so das Unternehmen. In betroffenen Regionen von Genf bis Winterthur wurde heftige Kritik laut. Auch die Region Emmental-Oberaargau spürt den Schwund: Das einst eigenständige «Langenthaler Tagblatt», das schon seit einigen Jahren nur noch als Split-Ausgabe der «Berner Zeitung» erscheint, geht jetzt vollständig in diesem Tamedia-Titel auf.
Walter Ryser, der publizistische Verantwortliche beim «Unter-Emmentaler», war früher Chefredaktor des «Langenthaler Tagblatts». Er hielt es immer für einen gravierenden Fehler, die Lokalberichterstattung zurückzufahren: «Ich staune, wie sehr man Medien am Volk vorbei produziert», sagt er, «die Leute wollen doch wissen, was in ihrem Dorf passiert.» Es gebe ein Bedürfnis nach lokalem Qualitätsjournalismus, und in diesen hat das Huttwiler Unternehmen in den letzten Jahren investiert: die Redaktion leicht aufgestockt, den Radius der Berichterstattung erweitert. Beim «Unter-Emmentaler» heisst es weiterhin: «Print First». Die Website und der Facebook-Account dienen dazu, für die Zeitung zu werben.
Ausführliche Beiträge zu aktuellen Lokalnachrichten machen 80 Prozent des redaktionellen Inhalts aus: In Melchnau bleibt die Dorfkäserei erhalten, in Huttwil wird um den Gemeindebeitrag zur Eishalle gerungen, in Affoltern entsteht ein Feuerwehrmuseum. Die Redaktion erbringt viele Eigenleistungen. Sie besucht Veranstaltungen, porträtiert Menschen, interviewt Persönlichkeiten aus der Region. Zudem ist sie an jeder Gemeindeversammlung präsent, wo die Stimmberechtigten über lokale Vorlagen entscheiden. Es sind wichtige Organe der direkten Demokratie in der Schweiz. Mehr als 40 Gemeindeversammlungen abzudecken, ist ein Kraftakt. «Doch wir wollen diesen Service leisten», sagt Redaktionsleiter Thomas Peter.
Studien zeigen: Wenn keine Medien mehr über das Leben eines Ortes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner berichten, sinkt die politische Beteiligung, und der soziale Zusammenhalt nimmt ab. Fehlen unabhängige Lokalmedien, steigt zudem die Korruption. Für umfangreiche Recherchen hat der «Unter-Emmentaler» laut Peter nicht genügend Kapazitäten. Akteure «mit Dreck bewerfen» und Konflikte schüren will man ohnehin nicht. Bei kontroversen Themen werden Fakten und Positionen dargestellt, damit Leserinnen und Leser sich eine Meinung bilden können. Allzu Angriffiges tolerieren diese kaum, weiss Walter Ryser: «Wir bekommen sofort Reaktionen, das entspreche nicht dem Stil der Zeitung.»
Der «Unter-Emmentaler» besteht am Markt. Rund 4700 Personen bezahlen gemäss aktuell beglaubigter Auflage für ein Abonnement, die Zahl konnte in den letzten Jahren erhöht werden, entgegen dem allgemeinen Trend. Dadurch bleiben auch die lokalen Inserenten der gedruckten Zeitung treu, die Einnahmen sind laut den Verantwortlichen zufriedenstellend. Alle zwei Wochen wird eine Grossauflage von 20 000 Exemplaren gestreut. Als Printverlag profitiert das Huttwiler Unternehmen zudem von subventionierter Postzustellung.
Wie ist der Erfolg eines kleinen Traditionsblatts mitten in Medienkrise und digitaler Transformation möglich? «Bei solchen Zeitungen funktioniert das Geschäftsmodell noch, das bei überregionalen und nationalen Titeln am Erodieren ist, also die Mischfinanzierung aus Abo- und Inserateneinnahmen», erklärt der Medienjournalist Nick Lüthi. Das liege daran, dass es für Leserschaft und Inseratenkunden keine Alternativen gibt und diese Medien weiterhin einen Service public bieten, der geschätzt und genutzt wird: «Die Tamedia-Zeitungen gehen schon länger nicht mehr so in die Tiefe, wie das ein ‹Unter-Emmentaler› leisten kann», sagt der Branchenkenner. Zudem erreichten der Dorfmetzger und der Hofladen ihr Publikum mit einem Inserat in der Zeitung besser als mit einer Kampagne auf Online-Kanälen.
Politikerinnen und Politiker bedauern die Ausdünnung der Lokalberichterstattung durch Tamedia in ihrer Region. Sie begrüssen umso mehr, dass der «Unter-Emmentaler» über das Geschehen in ihren Gemeinden schreibt. «Er berichtet über Anlässe, Ereignisse und behördliche Informationen, die sonst nicht mehr an die Bevölkerung gelangen würden», sagt Langenthals Stadtpräsident Reto Müller. Kritisch sieht er einzelne personelle Verflechtungen mit Ortsparteien und einem Sportklub. Ein Verzicht auf direkte Verbindungen wäre für ihn wünschenswert.
Für Hans Peter Baltensperger, den langjährigen Gemeindepräsidenten von Wyssachen, erfüllt der «Unter-Emmentaler» eine «extrem wichtige Rolle». Ohne diesen käme die kleine Gemeinde medial kaum mehr vor, doch Lokalpolitik setze informierte Bürgerinnen und Bürger voraus. Das Weltgeschehen erfährt man über grosse Medien, «für lokale Informationen braucht es die Lokalzeitung». Baltenspergers Transportunternehmen unterstützt aus Solidarität lokale Vereine bei der Inseratenwerbung, was dem «Unter-Emmentaler» zugute kommt.
Bei Schürch Druck & Medien ist man zuversichtlich: Das Geschäftsmodell der gedruckten Zeitung wird noch länger funktionieren. Es sollte möglich sein, unter den rund 45 000 Einwohnerinnen und Einwohnern des Einzugsgebiets mindestens zehn Prozent Abonnentinnen und Abonnenten bei der Stange zu halten, sagt Walter Ryser. Auch Jüngere wenden sich wieder vermehrt den Traditionen zu, stellt er fest, und fügt an: «Der 150-jährige ‹Unter-Emmentaler› ist ein lokales Kulturgut.» Eines, das sich auch ausgewanderte Emmentalerinnen und Oberaargauer zuschicken lassen: Das Blatt aus Huttwil hat Abos weltweit.
Vor allem in urbanen Regionen springen neue Online-Medien in die lokaljournalistische Lücke, die die grossen Verlage hinterlassen: Unabhängige Portale wie «hauptstadt.be», «tsüri.ch», und «bajour.ch» wollen die Medienvielfalt an ihren Orten erhalten. Die Neugründungen bauen Communitys auf, die die redaktionellen Inhalte zum grossen Teil mit Abos finanzieren. Stiftungen leisten Anschubfinanzierungen. Doch tragfähige Erlöse zu erwirtschaften, ist anspruchsvoll. 2022 lehnte das Schweizer Volk ein Gesetz mit neuen Förderinstrumenten ab, von denen auch Online-Medien profitiert hätten. Dabei bleibt es, wie das nationale Parlament in der Wintersession 2024 beschlossen hat. Stattdessen wird wahrscheinlich die bisherige indirekte Presseförderung via Posttaxen aufgestockt. Dies auch, weil die Regional- und Lokalpresse für die Demokratie wichtig sei. (SWE)
Bern: www.hauptstadt.be
Zürich: www.tsüri.ch
Basel: www.bajour.ch
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