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  • Gesellschaft

Der rätoromanische Sprachexpress

24.03.2023 – JÜRG STEINER

Sprachen wandeln sich und nehmen ständig neue Wörter auf. Die «kleine Sprache» Rätoromanisch erneuert sich besonders schnell – manchmal sogar von heute auf morgen.

Wie bleibt der Wortschatz einer kleinen, nur von relativ wenigen Menschen gesprochenen Sprache, aktuell? Kann sie sich rasch genug erneuern? «Das kann sie», sagt der Linguist Daniel Telli, «aber man muss etwas dafür tun.» Telli weiss, wovon er redet. Er ist Leiter Sprache bei der Lia Rumantscha, der Förderorganisation der romanischen Sprache und Kultur mit Hauptsitz in Chur.

Daniel Telli und sein Redaktionsteam fügen dem «Pledari Grond», dem rätoromanischen Wörterverzeichnis, praktisch täglich neue Begriffe bei. Foto zvg

Rätoromanisch, das mehrere Idiome (regionale Varianten) und Dialekte kennt, ist eine kleine Sprache. Laut Bundesamt für Statistik ist Rätoromanisch für konstant rund 40 000 Personen die bestbeherrschte Sprache, rund 60 000 Personen sprechen rätoromanisch. «Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass eine Sprache weniger kann, nur weil sie von verhältnismässig wenigen Menschen gesprochen wird», sagt Daniel Telli. Genauso wie Deutsch, Französisch oder Englisch decke auch Rätoromanisch die ganze Spanne des menschlichen Lebens ab – vom Intimbereich bis zu den grossen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen. Wäre es anders, würde die Sprache wohl nicht überleben. Ein wichtiger Indikator für die Zukunftsfähigkeit einer Sprache ist ihre Erneuerungskapazität. Wie schöpft man neue Wörter, die eine sich verändernde Realität eigenständig widerspiegeln? In der deutschen Sprache, die für über 100 Millionen Menschen die Muttersprache ist, gibt es dafür gewichtige Instanzen. Das Rechtschreibe-Standardwerk Duden zum Beispiel. In der jüngsten Ausgabe, die 2020 erschien, wurden 3000 Begriffe zu den bestehenden rund 145 000 hinzugefügt.

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Alles bestens verstanden? Ausklappen, falls Ihr Rätoromanisch doch noch nicht perfekt ist

«Das Wörterschöpfen im Rätoromanischen ist keine abgehobene, akademische Tätigkeit. Es ist wichtig, dass die Userinnen und User sich direkt am ‹Pledari Grond› und damit an der Erneuerung der Sprache beteiligen können. Das stärkt das Gefühl, dass die Sprache allen gehört, die sie benutzen. Rätoromanisch soll keine Kunstsprache werden, sondern muss im modernen, sich ständig wandelnden Alltag verankert bleiben.»

Ins Rätoromanische übersetzt wurde der Text von Daniel Telli.

Das wissenschaftliche Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim betreibt ein Online-WortschatzInformationssystem, zu dem ein Wörterbuch der Neuschöpfungen – sogenannte Neologismen – gehört. In den vergangenen zehn Jahren fanden da gut 2000 neue Wörter oder veränderte Bedeutungen von Wörtern Eingang. Zudem beobachtet das Institut aktuell ein paar Hundert neu aufgetauchte Wörter – beispielsweise netflixen, Bodypositivity oder 1,5-Grad-Ziel – ehe diese allenfalls in den offiziellen deutschen Wortschatz aufsteigen. In vergleichbarer Art läuft das in anderen grossen Sprachen ab.

Das grosse Wörterbuch

Die Lia Rumantscha in Chur geht da vergleichsweise pragmatisch – und schnell – vor. Das zentrale Instrument zur Aktualisierung des rätoromanischen Wortschatzes ist der «Pledari Grond», auf Deutsch: das grosse Wörterbuch. Es handelt sich dabei um ein Online-Wörterbuch in der Standardschriftsprache Rumantsch Grischun sowie in fünf Idiomen. In Rumantsch Grischun befinden sich derzeit knapp 250 000 Ausdrücke im «Pledari Grond» – im Vergleich etwa zum Duden eine reichhaltige Basis.

Das Redaktionsteam von Daniel Telli fügt dem dynamischen Verzeichnis praktisch täglich neue Begriffe bei – häufig auf Anstoss von aussen. Auf der Website des «Pledari Grond» kann man fehlende romanische Wörter auf Deutsch erfassen und – falls vorhanden – auch gleich einen eigenen Übersetzungsvorschlag machen. Das diensttuende Redaktionsmitglied nimmt sich der Fragestellung laut Telli unmittelbar an: «Wer bei uns Tagesdienst hat, muss auf überraschende Herausforderungen gefasst sein», sagt er.

Vom Kornspeicher zum Computer

Sehr häufig seien es Journalistinnen und Journalisten der romanischsprachigen Medien, die den «Pledari Grond» aufrufen – und, wenn sie einen Begriff nicht finden, um Rat fragen. «Meistens brauchen sie eine Lösung bis Redaktionsschluss ein paar Stunden später», so Telli, «und in der Regel schaffen wir das.»

Die Medien seien – ähnlich wie die Schulen – wichtige Sensoren der Spracherneuerung, weil sie für neu auftauchende Themen verständliche Ausdrücke finden müssen. Die Coronakrise (crisa da corona) hat den Wortschatz besonders stark beeinflusst – von Impfdurchbruch (infecziun postvaccinala) bis Zertifikatspflicht (obligatori da certificat).

Trotz Eile versuchen die Redaktorinnen und Redaktoren des «Pledari Grond» möglichst eigenständige, aber auch logische Begriffe zu finden. Ein anschauliches Beispiel für diese Bemühungen ist gemäss Telli der Begriff arcun, das traditionelle rätoromanische Wort für einen Kornspeicher oder eine Korntruhe. Heute bezeichnet man mit arcun auch den Speicher des Computers, das Verb arcunar bedeutet abspeichern einer Datei.

«Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass eine Sprache weniger kann, nur weil sie von verhältnismässig wenigen Menschen gesprochen wird.»

Daniel Telli

Leiter Sprache bei der Lia Rumantscha

Komplexes Gendern

Das Wörterschöpfen ist in der Vision von Daniel Telli bewusst keine abgehobene, akademische Tätigkeit. «Es ist wichtig, dass die Userinnen und User sich direkt an der Erneuerung beteiligen können», sagt er, «das stärkt das Gefühl, dass die Sprache allen gehört, die sie benutzen.» Rätoromanisch soll nicht plötzlich eine nostalgische Kunstsprache werden, sondern im modernen, rasanten Alltag verankert bleiben. Dafür sei der leichtfüssige «Pledari Grond» ein wichtiger Baustein.

Genauso wie die pragmatische Grundhaltung. Wenn es sich aufdrängt, integriert man englische Ausdrücke locker ins Romanische: Googeln wird zu googlar, chatten zu scriver en il chat, kiffen zu chiffar (oder fimar in joint).

Etwas komplexer wird es beim Gendern (gendrar). Der Einsatz des Gendersterns wäre viel häufiger nötig als etwa im Deutschen, weil im Romanischen die Artikel für männlich und weiblich auch in der Mehrzahl variieren (ils*las). Deshalb beschränken die Institutionen der rätoromanischen Sprachkultur den Einsatz von Gender-Sonderzeichen vorderhand auf Situationen, in denen ein diverses Publikum angesprochen wird.

www.pledarigrond.ch

Rätoromanisch

Rätoromanisch ist seit der Revision der Bundesverfassung von 1938 die vierte offizielle Landessprache. Es gliedert sich in fünf verschiedene regionale Varianten, auch Idiome genannt (Puter im Oberengadin; Vallader im Unterengadin und im Münstertal; Sursilvan im Bündner Oberland; Sutsilvan hauptsächlich im Schams; Surmiran im Oberhalbstein und Teilen des Albulatals), sowie in zahlreiche Ortsdialekte. Neben den Idiomen gibt es mit dem Rumantsch Grischun eine einheitliche Schriftsprache, die hauptsächlich auf den drei Idiomen Sursilvan, Surmiran und Vallader basiert. Lehrmittel werden in Rumantsch Grischun und sämtlichen Idiomen herausgegeben, da je nach Gemeinde sowohl Rumantsch Grischun als auch die Idiome Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache sind. Der «Pledari Grond» bietet auch Wörterbücher für die Idiome Surmiran, Sutsilvan, Sursilvan, Puter und Vallader. Menschen, die ausschliesslich Rätoromanisch sprechen, gibt es nicht. Alle können mindestens auch noch Deutsch.

Kommentare

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Kommentare :

  • user
    Seraina Gessler-Stupan 28.03.2023 um 19:06

    Grazcha fich , pustuet pel artichal Rumantsch. Fich interessant.

    Übersetzung anzeigen
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