Natur und Umwelt
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Das im Süden des Vierwaldstättersees gelegene Reussdelta schien dem Untergang geweiht. Aber dank Aushub aus dem Gotthard-Basistunnel lebt es wieder auf: Mit ihm wurden kleine Inseln aufgeschüttet und Flachwasserzonen geschaffen, die für die Tier- und Pflanzenwelt attraktiv sind. – Ein Pionierprojekt.
Die kleine Insel liegt nur einen Steinwurf vom Ufer des Urnersees, dem südlichsten Teil des Vierwaldstättersees, entfernt. An einem lauen Herbsttag schwimmen wir zu den kleinen Badeinseln namens Lorelei. Unsere Füsse berühren den mit fast fluoreszierend grünem Moos bedeckten Boden. Aber eigentlich begehen wir hier eine Abfallhalde! Die Inseln bestehen aus Schutt, aus Aushub des GotthardBasistunnels. Von den 27 Millionen Tonnen Granit, Gneis und Kalkstein, die zwischen 2001 und 2008 abgebaut wurden, landete ein Zehntel im See.
Ursprünglich war geplant, alles im See zu versenken, sagt Giovanni De Cesare, Ingenieur und Experte für Hydrologie an der EPFL. Seit 2011 ist dies aber verboten. Zudem sprach ein weiterer Grund dagegen: Das Delta der Reuss, diese «Camargue» der Zentralschweiz, wäre wegen der Bodenerosion durch Strömung und Wellen und wegen der Ausbeutung des Bodens durch ein Steinbruchunternehmen beinahe verloren gegangen. Der Kanton Uri erliess deshalb ein Gesetz zum Schutz des Deltas. Die Renaturierung wurde zunächst mit dem Einsatz von Maschinen in Angriff genommen, um dem Delta wieder einen breiteren Winkel zu verleihen. Dessen Rettung ist besonders Martin Jaeggi, Ingenieur und Pionier im Bereich Feststofftransport in Flüssen, zu verdanken. Inzwischen ist er im Ruhestand. Es war seine Idee, das Delta mit dem Aushub aus dem Gotthard zu renaturieren.
Mittlerweile ist das Gebiet ein Park, in dem sich sowohl Menschen als auch Tiere wohlfühlen. In der warmen Jahreszeit zieht das Delta Tausende von Besucherinnen und Besuchern an, die sich auf den kleinen Inseln sonnen. «Der Park ist nicht nur den Bären vorbehalten», scherzt Giovanni De Cesare. Ein Teil des Geländes – darunter der Neptun-Archipel, der aus drei weiteren Inseln besteht – ist jedoch für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Barbecue-Fans finden trotz dieser Einschränkung zahlreiche öffentliche Grillplätze, wo sie ihre Cervelats braten können. Es hat sogar Feuerholz in eigens dafür errichteten Hütten. Sonntagsspaziergängerinnen und -spaziergänger können sich auf den Pfaden durch das feuchte und grüne Gebiet tummeln. Und das Naturschutzgebiet lässt sich sogar mit dem Velo erkunden. Für Vogelliebhaberinnen und -liebhaber stehen mehrere Beobachtungsposten zur Verfügung, darunter ein Turm mit gutem Ausblick aufs gesamte Delta. Am linken Reussufer gibt es im Seerestaurant das Tagesgericht für 21 Franken, inklusive Salat und Getränk. «Dieses Lokal konnte dank einer gesetzlichen Ausnahmegenehmigung eröffnet werden», erklärt Rico Vanoli, Gemeindeschreiber der Gemeinde Flüelen, einer Ortschaft am rechten Flussufer.
Die Herausforderung im Reussdelta besteht darin, wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele in Einklang zu bringen. «Ohne die Renaturierung hätten die Bauern in der Gegend letztendlich Land verloren, da die Erosion mehr als 100 Meter betragen hätte», sagt Giovanni De Cesare. Übrigens helfen die Viehzüchterinnen und -züchter bei der Erhaltung des Reservats mit, indem sie gehörnte Hochlandrinder invasive Gräser abgrasen lassen. Aber da hat’s auch noch Industrie. Seit 1905 baut der Sand- und Kieswerkbetreiber Arnold das Seematerial ab, das die Reuss mit sich führt. Jetzt sei das Unternehmen am Wirtschaftskreislauf des Projekts beteiligt, sagt Rico Vanoli, und zwar durch die Zahlung einer Konzession an den Kanton. Sein Auftrag? Die Schaffung von Inseln und Flachwasserzonen vor den Ufern des Deltas. Damit werden gleich zwei Ziele erreicht: Das Delta wird vor Erosion geschützt und die Tiere erhalten einen Lebensraum. Zugegeben, im Hafenstädtchen Flüelen sind die Maschinen von Arnold, die den Grund ausheben, bisweilen ein bisschen lärmig. Ausserdem kann das Delta nicht über das Seeufer erreicht werden, da das Unternehmen den direkten Zugang zum Schutzgebiet verbietet. Das ist zwar schade, aber im Gegenzug beschäftigt das Unternehmen 45 Mitarbeitende, von denen ein Teil hier lebt. «Die Firma wird geschätzt und akzeptiert», bestätigt Gemeindeschreiber Vanoli.
Diesen Herbst wurde die letzte Phase der Renaturierung der Reuss eingeleitet: Mithilfe von Lastkähnen der Firma Arnold sollen neue Flachwasserzonen in der Nähe des Seeufers geschaffen werden. Hierzu werden 7 Hektar Fläche mit 4,9 Millionen Kubikmeter Material aufgeschüttet, das aus der neuen Gotthard-Strassenröhre stammt, sowie von den Arbeiten an der Axenstrasse, die Brunnen (SZ) mit Flüelen (UR) verbindet. Das Projekt wird 62 Millionen Franken kosten, finanziert von den Anlieferern des Aushubs, dem Bund und den Kantonen Schwyz und Uri.
Die Wassertiefe wird höchstens 10 Meter betragen, sodass das Sonnenlicht den Seegrund gut erreicht. Die Flachwasserzonen sollen einen Zustand wiederherstellen, wie er vor dem industriellen Kiesabbau war. Vor allem aber werden diese neuen unterseeischen Erhebungen das Delta vor Erosion schützen.
Es besteht jedoch die Gefahr, dass der Seegrund dadurch auch Schaden nimmt: «Die Seeschüttung kann die Unterwasserfauna beeinträchtigen, aber jeder Eingriff ist schlussendlich immer eine Interessenabwägung», sagt Giovanni De Cesare. Das Ziel ist es, die Sanierung des Reussdeltas bis 2029 abzuschliessen.
Vorläufige Bilanz: Der Einsatz dürfte sich gelohnt haben; die Reuss mäandert wieder; die Renaturierung hat sowohl die Tier- als auch die Pflanzenwelt begünstigt. Im Delta gibt es rund 500 verschiedene Pflanzenarten. Darunter sind seltene oder geschützte Arten wie der Lungen-Enzian, der Erd-Klee oder die Sibirische Schwertlilie. In den Sümpfen leben auch Reptilien. Und im Sumpfboden tummeln sich Muscheln und Schnecken. Ungefähr 225 Vogelarten nisten in dieser Oase oder machen hier Rast. Unter der Wasseroberfläche konnten 30 Fischarten inventarisiert werden, darunter die stark bedrohten Flussneunaugen und Seeforellen.
Die Fauna des Deltas zieht viele Naturfreundinnen und -freunde an, etwa Bruno Imhof, ein ehemaliger Sigrist aus Altdorf. Er kommt seit 25 Jahren regelmässig hierher und sichtete auch sehr seltene Vögel. Im Mai 2023 hat ein Kuhreiher – ein aus Afrika stammender Sumpfvogel, der auf der roten Liste steht – hier Halt gemacht. Im April entdeckte er auf einer der Lorelei-Inseln einen völlig durchnässten und müden Wiedehopf. «Er blieb drei Tage lang, um sich auszuruhen», erzählt der Urner, der sich jedoch Sorgen wegen zu vieler Besucherinnen und Besucher im Sommer macht.
Insgesamt hat das Delta seine alten Funktionen wiedererlangt. Die legendären Überschwemmungen, welche sich hier immer wieder ereignen, werden es nicht zerstören, «denn es funktioniert wie ein Überströmdamm», sagt Giovanni De Cesare.
Weitere Infomationen:
www.seeschuettung.ch
www.reussdelta.ch
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