Politik
Politik
Politik
Politik
Schwerpunkt
Politik
Politik
Politik
Zwischen 2016 und 2018 beantragten mehr als 3000 unbegleitete Minderjährige in der Schweiz Asyl. Allein aus dem Maghreb sind hunderte Jugendliche ohne Begleitung eingereist. Der Kanton Genf ist Hauptbetroffener dieser Migration. Den Behörden wird Untätigkeit vorgeworfen.
Minderjährige, die allein in die Schweiz einreisen, werden in zwei Gruppen eingeteilt: Diejenigen, die aufgrund ihres Herkunftslandes Anspruch auf Asyl haben, werden als unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) eingestuft. Sie erhalten ein Dach über dem Kopf, Essen, müssen zur Schule und erhalten Sozialleistungen. Im Jahr 2015 reichten 2700 Jugendliche ein Asylgesuch ein, die Mehrheit waren 16- bis 17-jährige Jungen aus Eritrea.
Alle anderen gelten als unbegleitete Minderjährige (UM) und haben aufgrund ihres Herkunftslandes keinen Anspruch auf Asyl, so z. B. Jugendliche aus Marokko. Sie erhalten keine Sozialhilfe und haben keine Existenzgrundlage. «Minderjährige Gesuchsteller sind in der Regel in ihrer Familie aufgewachsen», sagt Sylvia Serafin, Co-Direktorin von Païdos, einem Verein, der UM psychopädagogische Betreuung und eine Mahlzeit pro Tag anbietet. «Die UM hingegen sind sehr früh aus zerbrochenen Familien geflüchtet. Sie haben im Exil dramatische Erfahrungen gemacht und die Mehrheit leidet unter posttraumatischem Stress. Sie benötigen eine entsprechende Begleitung.» Ein Grossteil dieser Jugendlichen kommt aus Algerien oder Marokko. Sie weisen psychologische Defizite auf und leiden ausserdem an den Folgen ihrer langen Irrfahrt: schlechte Zähne, Verletzungen, Hautkrankheiten. Einige von ihnen hielten sich laut dem französischen Verband Trajectoires während drei Jahren in mehr als 15 europäischen Städten auf.
In der Schweiz konzentriert sich der Grossteil der UM in Genf. Dafür werden zwei Gründe angeführt: die Nähe zu Frankreich und die Tatsache, dass in Genf Französisch gesprochen wird. Zu diesem neuen Phänomen kommt die Lage der UMA hinzu. Ihre Betreuung wird seit 2018 von Verbänden und Fachleuten aus dem Sozialbereich kritisiert, am schärfsten insbesondere das vom Hospice général geführte Foyer de l’Etoile, in dem sich im letzten März ein junger Afghane das Leben nahm. «Dieser Selbstmord eines Jugendlichen war eine befürchtete, aber durchaus nachvollziehbare Tat, die Folge einer vier Jahre dauernden Erschöpfung und Instabilität», schrieben einige Erzieher der Einrichtung in einem Brief an das Parlament. Das Flüchtlingsheim, das bis zu 200 minderjährige Asylsuchende beherbergt, war mit einem Gefängnis verglichen worden. Promiskuität, Lärm, Hitze und Kälte, Mangel an erzieherischer Betreuung, ungeeignete Räume. «Das ist kein Flüchtlingsheim», so die Zeugenaussage eines jungen Asylsuchenden, die der Haute Ecole de Travail Social vorliegt, «sondern ein Flüchtlingslager.»
Laut den Verbänden, darunter auch die Liga für Menschenrechte, unternimmt der Staat nicht das Notwendige für die Anerkennung und den Schutz der besonderen Rechte dieser Minderjährigen, so wie es die internationale Kinderrechtskonvention vorsieht. Das 2018 gegründete Collectif Lutte des MNA weist auf das Fehlen von Vorschriften und gemeinschaftlichen Leistungen für diese Jugendlichen hin. Julie, eine 25-jährige Studentin der Sozialwissenschaften in Lausanne, hat bei der Gründung mitgewirkt. Sie erzählt: «Die UM werden auf den Strassen eingesammelt und in Hotels untergebracht. Diese werden von Leuten geführt, die nicht für die Beherbergung dieser Jugendlichen ausgebildet sind und sie bei Problemen rauswerfen. Am Abend haben sie Anrecht auf ein Sandwich, am Morgen auf ein Frühstück. Sie werden nicht beschult und ihre Beistände sind mit der Anzahl der Dossiers überfordert.»
Das Département de l’instruction publique präzisiert, dass Minderjährige in der Regel in Flüchtlingsheimen untergebracht werden und Hotels lediglich eine Notlösung darstellen. Anfang Oktober bestätigte das Amt, dass kein einziger UM beschult wird. Das Collectif weist zudem auf «unnötige» Verhaftungen von jungen Sans-Papiers durch die Polizei hin. Wenn es dabei nur um den illegalen Aufenthalt geht, verfolgt das Jugendgericht das Verfahren prinzipiell nicht weiter, sondern lässt die Jugendlichen frei, gibt eine juristische Quelle dazu an. Die Rechtsanwältin Sophie Bobillier schätzt, dass man einem Jugendlichen in der Schweiz keinen illegalen Aufenthalt anlasten kann: «Die Kinderschutzpflicht muss schwerer wiegen.» Bei einem Empfang durch eine Delegation des Staatsrates forderte das Collectif die Behörden dazu auf, den betreffenden Jugendlichen ein polizeilich anerkanntes Dokument auszustellen. Der Kanton anerkannte, dass häufige Verurteilungen von Jugendlichen unter Vormundschaft wegen Verstössen gegen das Ausländergesetz nicht wünschenswert seien.
Das Auftauchen von UM in den Strassen von Genf begann im Frühling 2018. Im März fanden sich Minderjährige, die in einer Zivilschutzanlage der Heilsarmee für den Winter untergebracht waren, auf der Strasse wieder. Einige wurden in Hotels untergebracht, andere schliefen draussen oder verliessen die Gegend, wie Païdos berichtet. Der Zustrom nimmt gegenwärtig wieder zu. Im September 2019 wurden laut dem Collectif MNA und Païdos etwa 20 jugendliche Neuankömmlinge in Hotels untergebracht. Der Service de protection des mineurs berichtet, zwischen dem Sommer 2018 und 2019 200 Dossiers von Jugendlichen unter Beistandschaft betreut zu haben.
Im Juni unterstützte das Kantonsparlament eine Motion zugunsten der jugendlichen Ankömmlinge. Sie wurde von links und rechts gutgeheissen. Die SVP lehnte sie aus Furcht vor einem Anziehungseffekt ab. Als Verantwortliche für das öffentliche Schulwesen warf Staatsrätin Anne Emery-Torracinta den Verbänden vor, diese Migranten zu sehr mit Samthandschuhen anzufassen. «Sie begehen Delikte. Es geht hier um eine Bevölkerungsgruppe, die sich von vornherein nicht integrieren will und enorme Probleme verursacht», erklärte sie.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit hat der Kanton die Eröffnung eines Zentrums mit 25 Plätzen für diese Bevölkerungsgruppe angekündigt. Es wird für Jugendliche von 15 bis 18 Jahren bestimmt sein. Die Betreuung wird eine auf sie abgestimmte erzieherische Begleitung beinhalten. Jeder Minderjährige profitiert von medizinischer Versorgung. Gleichzeitig lancierten die Behörden einen Aktionsplan zugunsten der UMA, der ihre Aufnahme und ihren Zugang zu Bildung erleichtern soll. Im Oktober erhielten sechs UM zudem das Versprechen, zur Schule gehen zu dürfen. Eine Premiere. Der Staatsrat ist indessen der Meinung, dass nicht alle UM den Wunsch hegen, die Schule zu besuchen, und betont, dass Zweifel bezüglich ihrer Identität und ihres Alters bestehen.
Im Wallis, wo nur sehr wenige Fälle von UM bekannt sind, stellt sich der Leiter der Dienststelle für Bevölkerung und Migration die Frage, ob diese Minderjährigen nicht eigentlich Einwohner Frankreichs seien. Im Kanton Waadt scheint das Problem der UM nicht zu existieren. Der Internationale Sozialdienst mit Sitz in Genf plant, seine nächste Konferenz in der lateinischen Schweiz dieser Frage zu widmen. Sie findet am 12. Dezember statt und führt Beistände, Sozialarbeiter und Ärzte aus der Romandie und dem Tessin zusammen.
Bild: Betroffene Kinder und Jugendliche formulieren bei einem Fotoshooting ihre Anliegen: Wir brauchen Hilfe; respektiert unsere Rechte; hört auch uns zu. Foto HETS Genève
Kommentare