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Martin Meyer | Das verschwundene Krokodil und andere Verluste

21.09.2018 – JÜRG MÜLLER

Einst gab es Krokodile am Gotthard. Es waren keine gefährlichen Reptilien, sondern kraftstrotzende Güterzugslokomotiven. Sie waren mit ihren langen, mächtigen Vorbauten den gefürchteten Tieren nicht unähnlich. Kroch eines dieser Ungetüme die Rampen, Brücken und Kehrtunnels der alten Gotthardstrecke empor, sei das «ein feierlicher Moment» gewesen: «Die rotierenden Stangen produzierten ein rhythmisiert heulendes Geräusch, der Mittelkasten schien dauernd zu zittern und zu schwanken. (…) Die Lampen waren freigestellt und spähten wachsam.» Doch in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts mussten die Schienen-Reptilien dem technischen Fortschritt weichen.

Martin Meyer spürt in seinem Buch in 86 kurzen Texten vielen Techniken, Gegenständen, Gewohnheiten, Umgangsformen, Moden, kulturellen Erscheinungen, Redewendungen und Phänomenen aller Art nach, die in den letzten zehn, zwanzig oder dreissig Jahren verschwunden sind. Dinge eben, die «Gerade gestern» (Buchtitel) noch da waren. Anlass für den 1951 geborenen Meyer, sich über das «allmähliche Verschwinden des Gewohnten» Gedanken zu machen.

«Allmählich» ist Meyers Schlüsselbegriff: Die grossen, plötzlichen Umbrüche sind in der Geschichte selten. Veränderungen des Alltags geschehen meist schleichend, bis man eines Tages feststellt, dass etwas nicht mehr vorhanden ist. Der Pfeifenraucher etwa, den man kaum mehr sieht. Oder der Playboy, der zumindest der Begrifflichkeit nach ausgestorben ist. Postkarten sind zwar trotz Smartphone und SelfieKult nach wie vor erhältlich, aber wie häufig noch landen postalische Sommerferiengrüsse in unseren Briefkästen?

Der Gegenstand jedes Kurztextes dient oft nur als Ausgangspunkt für genaue Beobachtungen des Alltäglichen, für vertiefte Reflexionen. Selbst die Eigernordwand im Berner Oberland gibt Meyer Anlass zu daseinsanalytischen Betrachtungen. Einst war die 1800 Meter hohe Felswand «eine perfekte Kulisse für die Phantasie des Grauens», gab es doch zahllose schreckliche Dramen, vom Publikum mit Fernrohr und Feldstecher beobachtet. Doch die grosse alpinistische Bühne ist sie nicht mehr, irgendwann ist auch die Nordwand «verschwunden». Denn die Bergsteiger kämpfen nicht mehr über Tage hinweg mit der Vertikalen, sondern durchsteigen den Hang dank moderner Ausrüstung nicht selten in wenigen Stunden.

Meyer ist weder Kulturpessimist noch Nostalgiker. Etwas Melancholie kann der Autor allerdings nicht immer verbergen. Aber er hat sie in wunderbare Texte verpackt.

Martin Meyer: «Gerade gestern: Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten», Carl Hanser Verlag, München 2018, 320 Seiten, CHF 36.90

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Kommentare :

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    Ernst Ruetimann, Trang 11.11.2018 um 15:54
    Das ist halt das, was man mit Progress oder Fortschritt bezeichnet. Ich fuhr fast 20 Jahre für eine schweizerische Reederei auf Hochsee. Damals, Ende der 60iger- Anfangs 70iger-Jahre, waren um die 500 Eidgenossen auf diesen Schweizerschiffen anzutreffen, heutzutage ist es wie sechs Richtige im LOTTO, noch Seeleute mit dem Schweizerpass auf diesen Kähnen anzutreffen . Sehr wahrscheinlich sind mehr Schweizer auf ausländischen Pötten als auf den einheimischen Schiffen unterwegs!
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  • user
    Vibert Janine 24.09.2018 um 19:19
    D'autant plus intéressant que mon fils (handicapé) adore les trains..... et les crocodiles!!
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