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Thomas Strässle | Über alle Grenzen

31.01.2025 – Beat Bazenauer

Der Trick ist verblüffend. Anstatt verbotenerweise aus der DDR zu fliehen, würde die junge Frau ganz legal mit einem Pass am Prager Flughafen ausreisen. So hat es sich der junge Mann in der «Fluchtnovelle» von Thomas Strässle gedacht. Dieser erzählt darin die abenteuerliche Geschichte seiner Eltern. 1965 lernten sie sich in Erfurt kennen und verliebten sich ineinander. Für solche Beziehungen hatte die DDR aber kein Gehör. Deshalb begannen die beiden über eine Flucht nachzudenken. Vor allem für die Frau stand bei einem Misslingen viel auf dem Spiel. Doch der Mann aus der Schweiz hatte eine Idee, die sich zum konkreten Plan verfestigte. Mit strategischer Präzision kundschaftete er jeden Schritt aus und fälschte mit Engelsgeduld Pass und Stempel. Doch am Tag der Entscheidung war unversehens etwas anders: Die Stempelfarbe war von Grün auf Rot gewechselt. Die getarnte Flucht drohte zu scheitern, nur eine spontane Idee rettete das Unterfangen. Liebe überwindet Grenzen selbst da, wo sich zwei eigentlich gar nicht so richtig kennen.

THOMAS STRÄSSLE: «Fluchtnovelle», Suhrkamp, Berlin 2024. 124 Seiten. CHF 26.90

Schon in den 1970er-Jahren war der Schriftsteller Hermann Burger auf diesen Stoff gestossen. Er führte mit den beiden Flüchtlingen ein Gespräch, das er auf Kassette aufnahm, um darüber einen letztlich unausgeführten Text mit dem Titel «Fluchtliebe» zu schreiben. Auf diese Aufnahme konnte Strässle zurückgreifen, als er selbst auf die Geschichte aufmerksam wurde und sie zu recherchieren begann.

Um eine Novelle im strengen Sinn handelt es sich bei seinem Buch nicht. Im Titel klingt auch die Gesetzesnovelle an, die das Handeln der beiden Liebenden trennt. Strässle zitiert immer wieder aus den juristischen Bestimmungen der Schweiz (zur Passfälschung) und der DDR (zur Republikflucht). Er arbeitet den familiären Stoff mit vielfältigen formalen Mitteln auf. Dokumentarische Passagen wechseln mit Gesprächsszenen zwischen «Er» und «Sie». Eine Besichtigung an den Orten Ort des Geschehens ergänzt die literarische Nachempfindung.

Die Spannung der «Fluchtnovelle» liegt weniger darin, ob der Coup gelingt – er tat es offensichtlich, wie der in der Schweiz geborene Sohn beweist –, sondern auf welche Weise er funktioniert. So stellt das schmale Buch die familiäre Erfahrung in einen grösseren politischen Kontext und erinnert an eine Zeit, in der Europa schmerzvoll getrennt war.

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