Gegen aussen war die Zuger Crypto AG eine seriöse, schweizerische und auf Spitzentechnologie ausgerichtete Firma. Sie stellte ein Produkt her, das die wenigsten im Alltag brauchen: Chiffriergeräte. Die Kunden der Firma waren Staaten sowie deren Armeen und Geheimdienste, die ihre geheime Kommunikation unlesbar machen – also verschlüsseln, chiffrieren – wollten.
Allerdings gaukelte die Crypto AG nur vor, die normale Schweizer Firma zu sein und den normalerweise in der Schweiz geltenden Werten zu folgen. Kryptisch waren bei der Crypto AG die Besitzverhältnisse: Die im Verborgenen agierenden Besitzer waren ab 1970 der US-Geheimdienst CIA und der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND). Die beiden Geheimdienste erzwangen, dass die als unknackbar geltende «swiss made»-Verschlüsselungstechnologie mit einer Hintertüre versehen wurde. Dank den gezielten Manipulationen konnten CIA und BND über Jahrzehnte hinweg 148 Staaten belauschen – feindliche ebenso wie befreundete. Alle diese Staaten hatten für die Technologie aus dem vertrauenswürdigen neutralen Land Schweiz Millionenbeiträge investiert: Sie selbst bezahlten letztlich die Geräte, mit denen sie ausspioniert wurden.
Diese Sachverhalte machten Mitte Februar das Schweizer Fernsehen SRF, der deutsche Sender ZDF und die «Washington Post» nach gemeinsamen Recherchen publik. Das Rechercheteam stützt sich einerseits auf zugespielte CIA-Akten, andererseits auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Crypto AG und deren Angehörigen.
Die Ausmasse des – Zitat CIA – «Geheimdienstcoups des Jahrhunderts» erscheinen enorm. Die Affäre wirft ein Schlaglicht auf die spannungsgeladene Zeit des Kalten Krieges. Viele historische Ereignisse der letzten 50 Jahre erscheinen angesichts der umfassenden Mitwisserschaft von CIA und BND in neuem Licht. Wie weit es die jüngere Weltgeschichte neu zu schreiben gilt, dürfte aber erst die gründliche Aufarbeitung von «Cryptoleaks» zeigen. Ob auch die Schweizer Geschichte einer Revision bedarf, ist die Frage, die in der Schweiz selbst hohe Wellen wirft. Die Enthüllungen provozieren nämlich die Fragen, was die Schweizer Behörden von den Vorgängen wussten und ob die Schweiz ein Staat war, der das Tun der ausländischen Geheimdienste auf Schweizer Boden zwar kannte, dieses Tun aber deckte.
«… übertraf die kühnsten Erwartungen»
Wie erfolgreich – oder folgenreich – war die mit manipulierter Technologie der Schweizer Crypto AG erfolgte Spionagetätigkeit von CIA und BND? Der Erfolg von Spionen ist stets ein Misserfolg für die Ausspionierten: Das Urteil ist also hier eine Frage des Standpunktes. Der CIA-Standpunkt gemäss den publik gemachten Quellen: «Es war gleichzeitig das produktivste und längste Spionageprojekt seit dem Zweiten Weltkrieg.» So konnten 80 bis 90 Prozent der Geheimkorrespondenz des Iran mitgelesen werden. Dazu die CIA-Quelle: «Das Programm übertraf die kühnsten Erwartungen seiner Erfinder.»
Praktisch in jedem grösseren Konflikt erlaubten die Abhöraktionen insbesondere den USA, den Ausgang in ihrem Sinn zu beeinflussen. Ein Beispiel: Der Militärputsch in Chile (1973) wurde gemäss heutiger Quellenlage von den USA basierend auf die Abhörungen unterstützt. Zugleich dechiffrierten CIA und BND auch die Kommunikation des damals an die Macht gekommenen Militärregimes und wussten somit stets von den Verfolgungs- und Foltermethoden, die 30 000 Regimegegnern das Leben kostete.
Viele Fragen, erste Antworten
Die Enthüllungen zur Crypto AG werfen hohe Wellen, ein abschliessendes Fazit lässt sich aber noch nicht ziehen. Die zentralen Fragen zum Fall umreissen aber dessen Tragweite für die Schweiz:
Warum nutzten der CIA und der BND den diskreten Schutz einer Schweizer Firma?
Gegründet wurde die Firma 1952 vom schwedischen Kryptologen Boris Hagelin. Er wählte die Schweiz bewusst als Standort. Die CIA-Quelle zu Hagelins Motiv: «Wenn man an heiklen Geschäften wie der Kryptografie beteiligt war, suchte man besser den Schutz eines neutralen Landes mit weniger moralischen Skrupeln.» Hagelin verkaufte seine Firma 1970 an eine Tarnfirma von CIA und BND.
Spioniert haben CIA und BND. Warum wird der Fall in der Schweiz als «schweizerischer» Skandal wahrgenommen?
Aus Schweizer Perspektive ist die Frage zentral, was die offizielle Schweiz von den Absichten, dem Vorgehen und der Tragweite der Spionagetätigkeit wusste und ob sie das Vorgehen der beiden Nachrichtendienste duldete oder sogar begünstigte.
Schweizer Mitarbeiter ahnten, dass fremde Mächte in ihre gute Technik eingriffen. Sie informierten die Schweizer Justiz. Was geschah dann?
Belegt ist, dass ein Mitarbeiter der Crypto AG amtlichen Stellen Mitte der 1970er-Jahren mitteilte, die verkauften Geräte seien «mit manipulierten Schlüsselgeneratoren versehen worden, womit die Anhördienste der BRD und USA die Möglichkeit erhielten, die Botschaft zu dechiffrieren». So lautet wörtlich ein Karteieintrag des Bundesarchivs vom 24. Juli 1977. Die Peinlichkeit: Die eigentlichen Akten zu dieser Karteikarte sind zum Teil verschwunden.
Den Vorwürfen angenommen hatte sich auch die Schweizer Bundespolizei, allerdings ergebnislos. Zeitzeugen kritisieren heute, die damaligen Befragungen durch die Bundespolizei seien nur «pro forma» erfolgt.
Ist der ganze Fall nicht kalter Kaffee aus der Zeit des Kalten Krieges?
Zwar wurden Mitte der 1970er-Jahre erste Vorwürfe laut. Zwar warf der ehemalige CryptoMitarbeiter Hans Bühler der Firma ganz offen vor, mit ausländischen Geheimdiensten zu kooperieren (Bühler sass neun Monate in einem iranischen Kerker, verdächtigt als Spion, und publizierte seine Vorwürfe 1994 im Buch «Verschlüsselt»). Die ganze Tragweite des Falles zeigt sich aber erst jetzt, denn Belege aus CIA-Quellen liegen erst jetzt vor. Zudem dauerte die Spionagetätigkeit bis 2018, weit über den Kalten Krieg hinaus. Der BND zog sich allerdings bereits 1993 zurück, dies als eine der Folgen der deutschen Wiedervereinigung.
Was wusste der Bundesrat nach heutigem Erkenntnisstand von der Spionagetätigkeit?
Das ist eine Schlüsselfrage. Noch ist sehr unklar, in welchem Mass Bundesräte in die Spionagetätigkeit eingeweiht waren. In den CIA-Unterlagen wird der ehemalige Bundesrat Kaspar Villiger (FDP) als Mitwisser erwähnt. Der heute 79-jährige Villiger dementiert heftig, von Details gewusst zu haben.
Warum hat die Frage, ob der Bundesrat von der Spionagetätigkeit wusste, so grosses Gewicht?
Sollte sich zeigen, dass der Bundesrat – oder einzelne Bundesräte – von der Spionagetätigkeit wussten, dann stellen sich ernste Folgefragen: Hat der Bundesrat die CIA-Spionage geduldet? Oder hat er sie gedeckt? Hat er akzeptiert, dass die schweizerische Neutralität als Lockvogel diente? Und falls es die mitwissende, duldende oder deckende Rolle der Schweiz gab: Wie ist dann die Spionage gegen kriegsführende Staaten aus neutralitätspolitischer Sicht zu rechtfertigen?
Wie reagieren Bundesrat und Parlament auf den Fall?
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga sagte früh, die Landesregierung werde alle Fakten zusammentragen und begrüsse eine Untersuchung. Verteidigungsministerin Viola Amherd bestätigte zudem, in ihrem Departement existierten Akten, die auf eine Mitwisserschaft ihres Vorgängers Kaspar Villiger schliessen liessen. Konkret untersucht werden die Vorwürfe nun von der Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte. Dieses Kontrollorgan will wissen, was die Schweiz von den Spionageaktionen wusste – und ob die schweizerischen Nachrichtendienste allenfalls sogar davon profitierten.
Inwiefern gefährdet «Cryptoleaks» die heutige Rolle der Schweiz?
Die Schweiz ist in vielen Konflikten eine Vermittlerin. Sie bietet gerade in sehr angespannten Weltgegenden ihre «Guten Dienste» an. So spielt sie derzeit die «Briefträgerrolle» zwischen den USA und dem Iran. Diese diplomatische Rolle einnehmen kann die Schweiz nur, wenn ihre Glaubwürdigkeit als neutraler Staat intakt ist. Genau diese Glaubwürdigkeit steht nun auf dem Spiel. Notabene: Gerade der Iran wurde besonders stark mit der manipulierten und von Crypto-Vertreter Hans Bühler verkauften «swiss made»-Technologie ausspioniert.
Spioniert haben die USA und die BRD. Warum ist denn das Ansehen der Schweiz beschädigt?
Wie sehr die Aussenwahrnehmung der Schweiz Schaden genommen hat, wird sich erst noch weisen. Die Selbstwahrnehmung der Schweiz hingegen ist in jedem Fall tangiert: Beschädigt ist das sehr vielen Schweizerinnen und Schweizern wichtige Bild des neutralen Staates. «Cryptoleaks» hat das Potenzial, die schweizerische Neutralität zur Farce verblassen zu lassen (siehe auch Gastkommentar).
Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Selbstbild: Das sind weiche Faktoren. Gibt es auch handfeste, wirtschaftliche Interessen, die nun leiden?
Die Schweiz verfügt über eine Technologiebranche im Aufschwung. Diese ist ebenfalls von der glaubwürdigen Marke Schweiz abhängig. Zudem möchte sich die Schweiz als «sauberen Digitalplatz» empfehlen und wirbt für eine internationale Ethik-Initiative. Da kommt «Cryptoleaks» doch sehr ungelegen.
Vertiefende Quellen:
Dokumentarische Sendung des Schweizer Fernsehens SRF
Hans Bühler / Res Strehle: «Verschlüsselt: Der Fall Hans Bühler», Werd & Weber-Verlag, Neuauflage 2020, ISBN 978-3-03922-044-1
Kommentare
Kommentare :
Ist es Neutralität, wenn nach wie vor Waffen in Krisengebiete verkauft werden?
Ist es Neutralität, wenn sich die Schweiz «genfrei» in der Landwirtschaft nennt und die Basler Multis den Rest der Welt «verseuchen»?
Ist es Neutralität wenn schwarze Schafe auf Plakaten erscheinen?
Der goldene Käfig lässt viele Verblendungen zu.
And as mister Frieden wrote, there are many holes! Maybe good we do not know from all, we would be shocked. I know since some years that Switzerland wasn't "so clean" also during second war. First it shocked me, but you know, I personally think and know "the bad" is inside of everyone, no matter from which country you come... So I live in Germany but I decided not to point on them or judge them, because somehow we are all bad. That is why I personally think, I need God, because he is the only one who can make me a better person...
On refuse aux Suisses résidents à l'étranger d'avoir un compte en Suisse (même Poste Finances) sous prétexte qu'ils craignent le blanchiment d'argents et de l'autre côté l'état fédéral se tait sur des dépassements aussi greaves.
Que les faits se seraient passées ailleurs, ça aurait été pour moi une simple affaire d'espionage. Qu'ils se soient passées en Suisse (dénociatrice et donneuse de leçon à tout niveau) et sous couvert de l'état fédéral ne fait qu'aggraver le sentiment d'hypocrisie resenti.
As for Trump, you're probably correct, his morals are certainly as primitive as those of William Tell...
Ruth Elisabeth Kelly-Hager, Swiss National living in Canada