Literaturserie
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Zwischen drinnen und draussen: Bücher und Literaten der Fünften Schweiz
Als im Jahr 1967 Edoardo Sanguinetti und Giorgio Manganelli beim Verlag Einaudi in Turin eine experimentelle Buchreihe mit dem Titel «La ricera letteraria» (etwa: «Der literarische Aufbruch») herausbrachten, kam als Erstes das Prosawerk «La figlia prodiga» («Die verlorene Tochter») von der in Rom als Lektorin lebenden Alice Ceresa heraus. Der Text kreiert ein weibliches Gegenstück zum verlorenen Sohn der Bibel. Er bleibt jedoch ganz im Abstrakten einer Hypothese, verweigert sich dem Konsumieren und Vereinnahmen und führt damit die experimentelle Literatur der 1960er-Jahre auf einen Höhepunkt. Diese abstrakte Modernität ist umso erstaunlicher, als die Verfasserin des Buches zu einem Grossen des italienischen Neorealismo, zu Ignazio Silone (1900–1978), in die Schule gegangen war.
Am 25. Januar 1923 in Basel als Tochter eines italienischsprachigen Vaters und einer Deutschschweizer Mutter geboren, wuchs Alice Ceresa zweisprachig in Bellinzona auf und schrieb ihre ersten Texte für die Zeitung «Il Dovere». 1943 zog sie nach Zürich und lernte da den im Exil lebenden Ignazio Silone kennen. Der sozialistisch engagierte, im Kampf gegen den Faschismus stehende Italiener wollte sie zu einer Schriftstellerin nach seinem Gusto machen. Sie soll darauf geantwortet haben, die Art zu schreiben könne sich nur aus dem ergeben, was ein Autor zu sagen habe. Gleichwohl folgte sie Silone nach Rom, als dieser 1951 die «Associazione Italiana per la Libertà della Cultura» gründete, und arbeitete zehn Jahre als Sekretärin der Organisation. Italienisch-schweizerische Doppelbürgerin, integrierte sie sich ganz in Italien, arbeitete als Lektorin beim Verlag Longanesi und blieb der ewigen Stadt auch nach Silones Tod treu.
Etwas ähnlich Rebellisches wie «La fi-glia prodiga» besass auch Alice Ceresas zweite, 1979 in einer Zeitschrift und erst 2003 als Buch veröffentlichte Erzählung «La morte del Padre», in der eine zur Beerdigung des Vaters versammelte Familie Figur für Figur gnadenlos seziert wird. Am eindrücklichsten aber setzte Alice Ceresa ihre eigene Schreibweise 1990 im Roman «Bambine» um. Da stellt sie auf eindringlich-irritierende Weise zwei heranwachsende Mädchen in eine absurd-repressive Familie und in eine kafkaeske Umwelt hinein, wo es von Kranken und Wahnsinnigen nur so wimmelt. Kaum je wurde das soziale Konstrukt «Familie» so radikal und rücksichtslos auf seine Machtstrukturen reduziert wie in diesem erschütternden Buch. Es kommt wie ein Film in Zeitlupe daher und denunziert die Kindheit unerbittlich als Schule der Lieblosigkeit, der Repression und der Lebenslüge.
Jeder Sentimentalität, allem Realistischen oder Naturalistischen abhold, sezierte Alice Ceresa in all ihren Texten gnadenlos die Wirklichkeit, deren Mechanismen und die Relativität der Sprache, mit der etwas abgebildet werden soll. So dass ihre Figuren wie Puppen erscheinen, die haltlos und ohne Perspektive in einer brüchigen Welt herumtaumeln. Eine Literaturkritikerin formulierte es einmal so: «In der perfekten Syntax ihrer Sätze verwandelt sich das Leben in die düstere Parodie eines Gefängnisses, aus dem es kein Ausbrechen gibt.» Als Alice Ceresa am 22. Dezember 2001 in Rom stirbt, feiern die italienischen Medien die Schweizerin als eine der grossen experimentellen Autorinnen der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Das hat sich 2003, als die Erzählung «La morte del padre» endlich in Buchform erschien, auf eine unmissverständliche Weise bestätigt.
«Wenn sie sich im Kreis um den häuslichen Tisch versammeln, um den verschiedenen Mündern Nahrung zuzuführen, ernähren sie vielleicht tatsächlich einen zusammengesetzten Körper, dessen einzelne Teile eben die Gliedmassen sind. Sie gehen dabei im Einklang zu Werke, damit jeder seine organische Teilnahme auch sichtbar vorführen kann. Im Greifen ungeübte, zuerst in aller Ruhe beschmutzte Händchen können später oder, besser gesagt, jetzt schon in rührender Nachahmung der Erwachsenen das Familienbesteck halten. Hieran erkennt man die Nützlichkeit, wenn nicht sogar das Wesen des Lernens in der Kleingruppe...»
Bibliografie: «La morte del padre» ist bei Tartaruga in Mailand auf Italienisch greifbar, die deutschen Übersetzungen sind zur Zeit vergriffen.
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