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Ein Schweizer Büezer wandert aus. Er wird in der Ferne zum Helden. Ein Heldensohn – sein Sohn – wandert zurück in die Schweiz. Er bleibt aber unwillkommen und wird zum Büezer. Eine kleine Schweizergeschichte übers Auswandern und Zurückwandern.
Der 2. September 1916 endete für ihn schrecklich. Er, der kräftige Schweizer Turner, hörte im griechisch-bulgarischen Grenzgebiet – mitten in den Wirren des 1. Weltkrieges – das Donnergrollen der Kanonen und Peitschen der Gewehrsalven. Doch er hörte es aus der Ferne. Denn LouisEmil Eyer aus Vevey, einziger Offizier in der königlich-bulgarischen Armee mit Schweizer Pass, lag nicht im Schützengraben. Er lag im Lazarett. Er war von keinem Projektil getroffen, von keinem Bajonett niedergestochen worden. Tödlich geschwächt war er wegen einer inneren Infektion. Er schaffte es am Ende nicht. In Eile wurde ein Denkmal errichtet. Andere Gefallene wurden daraufhin im offenen Sarg vor dem Eyer-Denkmal für die Hinterbliebenen fotografiert. Ihr Tod sollte so einen Hauch von historischem Sinn erhalten. Denn Eyer war ein Held, dessen Glanz selbst post mortem abfärbte.
Doch wer war dieser Eyer? Er ist eine der in der Schweiz konsequent unerwähnten historischen Figuren. Louis-Emil Eyer (1865–1916) war Giessereiarbeiter und leidenschaftlicher Turner. Er war es in einer Zeit, als die Turnerbewegung in der Schweiz so sehr in Hochblüte stand, dass dies selbst fremden Regierungen aufgefallen war. Das Königreich Bulgarien bat deshalb die Schweiz, den Aufbau des eben erst unabhängig gewordenen Staates mit der Entsendung von Turnlehrern zu unterstützen. Zehn Recken aus der Deutsch- und Westschweiz, unter ihnen Eyer, machten sich 1894 per Zug auf den Weg – im Gepäck Boxhandschuhe, Säbel, Fachbücher und lederne Bälle, für das aufstrebende Spiel, das die Engländer erfunden hatten.
Sport war damals zunächst ein Instrument zur Stählung des Volkskörpers und zur Hebung des Wehrwillens. Auch Eyer liess dem militärisch Anmutenden viel Raum: disziplinierte Marschübungen, Marschieren in Reihen, in Kolonnen, im Kreis. Aber zugleich färbten seine alten Leidenschaften auf die neue Heimat ab, so sehr, dass der Turnerbund in der Donaustadt Lom einen Steinstösser im Banner führte.
Der Zweijahresvertrag der Schweizer Turner endete. Doch Eyer blieb. Rastlos brachte er landauf, landab die Jugend ins Schwitzen. Er war mit dabei, als ein landesweiter turnerischer Jugendbund aufgebaut wurde. Er führte in Varna 1900 ein erstes «Fête Fédéral» nach schweizerischem Vorbild durch. Kurz: Er katalysierte turnerische Massenbewegungen. Und er griff für seine Wahlheimat wiederholt zur Waffe.
Kein Zweifel: Eyer stand nicht für behutsame Pädagogik. Der Jugend begegnete er mit der Weidenrute. Sein Hang zu Disziplin trug ihm zusätzliche Achtung bei. Und er überdauerte jede Korrektur der Geschichtsschreibung. Er erntete das Lob der Royalisten, weil er das Land westlichen Werten näherbrachte. Später lobten ihn die Sozialisten, weil er der echte, frühe Internationalist war, der ehrliche Arbeiter- und Bauernsöhne bildete. Auch das demokratische Bulgarien der Nachwendezeit zählt den Schweizer zum soliden historischen Personal, weil der Abkömmling der selbstbestimmungsfreudigen Turnernation in den Alpen bestens als Vorbild taugt.
Hier könnte die Schilderung im Prinzip enden. Doch die Auswanderergeschichte mündet in eine Rückwanderergeschichte. Zwar gewährte Bulgarien Eyers Witwe Pauline eine üppige Rente. Aber den Hinterbliebenen fehlte die Perspektive. «Der Schweizer mit bulgarischem Herzen» – so ein bulgarischer Filmtitel – war tot und seine Nachfahren waren sehr mit der Schweiz verbunden. Insbesondere Eyers in Bulgarien aufgewachsener Sohn Marcel drängte auf die Heimreise. 1920, vier Jahre nach dem Tod des ordensgeschmückten Offiziers und verehrten Sportpädagogen, trat er an der Seite seiner Mutter die Rückreise in «sein Land» an. Ein Land, das er nicht kannte. Ein Land, das nicht auf ihn wartete.
Der damals 18-Jährige dachte, es werde für ihn höchstens schwierig werden, aus allen ihm in der Schweiz offenstehenden Türen die allerbeste zu wählen. Doch während die Geschichte von Turnvater Louis-Emil für die Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert steht, illustriert die Geschichte von Sohn Marcel den reservierten Umgang der Schweiz mit Auslandschweizern: Der perfekt frankofone Rückkehrer galt schlicht nicht als Schweizer. Die Bittschreiben des von einem Studium träumenden jungen Mannes an den Regierungsrat der Waadt blieben folgenlos. Es gab nach damaligem Verständnis der Behörde keinen Anlass, ihm eine Brücke in den schweizerischen Alltag zu bauen. Der Heldensohn, der noch den Geruch frisch polierter Offiziersstiefel in der Nase trug, fiel zurück in die staubige Fabrikwelt, der sein Vater seinerzeit entkommen war. Er, faktisch ein Flüchtling, hauste in den Räumlichkeiten einer abgetakelten Zigarrenfabrik in Vevey. Für Jahre blieb er gefangen im enormen Spannungsfeld zwischen Selbstbild (schweizerischer Heldensohn) und Aussenwahrnehmung (bulgarischer Wirtschaftsflüchtling). In der ärmlichen Fabrikwohnung richtete er sich einen Schrein der eigenen Geschichte ein – ein poliertes Hausmuseum mit dem Ölbild des Helden, dem Offizierssäbel des Gefallenen, den Orden. Es waren seine «Beweise» dafür, wie sehr die Schweiz die «wahre Geschichte» ignorierte.
Die Kinder des Glücklosen, also die Enkel des Helden, erlebten die Dominanz der Geschichte zunehmend als Last und permanente Entfremdung. Marcel Eyers Sohn Louis Kosta erinnert sich: «Die Verehrung meines Grossvaters durch meinen Vater hatte etwas Furchtbares. Selbst mein Vater kannte ihn ja vor allem aus Distanz.» Bulgariens Oberturner war nämlich immer auf Achse. Seine Mission trieb ihn an. Für seine Familie war er stets ein Abwesender.
Die Enkel schrieben schliesslich ein kleines Zusatzkapitel über die Emanzipation von einem «Zuviel an Geschichte»: Sie übergaben alle Erinnerungsstücke dem bulgarischen Staat. Louis Kosta Eyers: «Louis-Emils ‹grosse› Geschichte begann in Bulgarien. Und sie endete in Bulgarien.» Zurück bleibe bloss die Erkenntnis, dass es zu nichts tauge, sich mit den Verdiensten von Vorfahren zu schmücken: «Ich lese Louis-Emils Geschichte, wie ich in den Büchern die Geschichten anderer historischer Persönlichkeiten lese: mit Interesse, aber im Bewusstsein, dass das seine und nicht meine Geschichte ist. Jeder ist für seine eigene Geschichte verantwortlich.» Beim Blick zurück lässt der Enkel immerhin einen positiven Gedanken zu: «Wir sehen heute ein Europa der erstarkenden Nationalismen. Heute nehmen immer mehr Menschen die Welt aus ihrer nationalen Perspektive war. Louis-Emil erinnert uns zumindest an ein Europa, das offener und durchlässiger war, als es heute ist.»
Über zwei Jahre hinweg war Marc Lettau, Redaktor der Schweizer Revue, zusammen mit zwei bulgarischen Historikern auf Spurensuche. Das dabei entstandene Sachbuch «Die drei Leben des Louis Eyer» (ISBN 978-619-01-0041-6) ist sowohl in deutscher wie bulgarischer Sprache im Buchhandel erhältlich. Es kann auch bei Variant 5 bestellt werden: E-Mail | Webseite
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