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Der gesellschaftliche Wandel bringt eine neue Heimatliteratur hervor. Aus einem Land der Auswanderer ist die Schweiz längst ein Land für Einwanderer geworden. Das spiegelt sich auch in ihren Erzählungen wider. Diese orientieren sich nicht mehr an den Idyllen und Traditionen von einst, sondern setzen sich kritisch mit der eigenen Herkunft auseinander.
Wer nach seinen Wurzeln sucht, verfolgt dabei leicht Fährten in weit entlegene Regionen. Solche Weltläufigkeit prägt die neue multikulturelle Literatur. Vor rund einem Jahrzehnt (2010) hat Melinda Nadj Abonji für «Tauben fliegen auf» den Schweizer Buchpreis und den Deutschen Buchpreis erhalten. Ihr Roman über Ankommen und Ausgrenzung einer Migrantenfamilie in der neuen Heimat traf einen Nerv der Zeit.
Schon 1970 hatte die Tessiner Autorin Anna Felder in «Tra dove piove e non piove» einfühlsam die Fremdheit der «Schlüsselkinder» von italienischen Gastarbeitern geschildert. Ihr sind zahlreiche Autorinnen und Autoren gefolgt wie Dante Andrea Franzetti oder Franco Supino, die von der Generation der Secondos erzählen. In der Romandie hat Agota Kristof die Sprache der neuen Heimat gewählt, um sich an Ungarn, das Land ihrer Geburt, zu erinnern. Bücher von Max Lobe (Kamerun) oder Elisa Shua Dusapin (Korea) auf Französisch, von Dorian Catalin Florescu (Rumänien) oder Kathy Zarnegin (Iran) auf Deutsch demonstrieren, wie die Suche nach den familiären Wurzeln in die ganze Welt ausstrahlt. Mit solchen Büchern hat sich der Spielraum der Schweizer Literatur lebhaft erweitert. Mit den neuen Kulturen fliessen neue Geschichten und neue Bilder in sie ein und machen sie farbiger und vielfältiger.
Die Welt ist 1968 seit den Streiks und Studentenprotesten im Umbruch. Auch in Bern, wo Stettler als angesehener Schaufensterdekorateur im grössten Warenhaus arbeitet, weht der neue Zeitgeist. Der knapp sechzigjährige Stettler erhält einen jungen Kollegen mit frischen Ideen. Seine einst bewunderten Schaufenster wirken nun bieder und bünzlig. Stettlers Welt ist erschüttert. Er fühlt sich bedroht und verbeisst sich in seinen Zorn und in Rachegedanken. Das Ende wird bitterböse mit einem nie gesehenen Schaufensterbild von Stettler, das seinen Untergang besiegelt. Er schafft es nicht, dem Wandel etwas Gutes abzugewinnen. Auch die Chance einer möglichen Liebesgeschichte mit einer Pianistin verpasst er.
Sulzers Roman ist gescheit und feinfühlig, präzise in der Sprache und wunderbar erzählt. Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt heute in Basel. Er hat zahlreiche Romane und Essays verfasst.
Arno Camenisch, «Herr Anselm» (Engeler) Witziger, fein melancholischer Monolog eines unerschrockenen Schulabwarts.
Ivna Žic, «Die Nachkommende» (Matthes-Seitz) Fulminantes Romandebut über Ankommen und Abreisen – Identität und Heimat.
Ruth Schweikert: «Tage wie Hunde» (S.Fischer) Ein berührendes Krankentagebuch, das die ganze Welt mit umsorgt.
Johanna Lier: «Wie die Milch aus dem Schlaf kommt» (Brotsuppe). Die Suche nach den jüdischen Wurzeln in Osteuropa und in Israel.
Martin Suter, «Allmen und der Koi» (Diogenes)
Leichte mit Humor gespickte Krimikost um einen japanischen Zierfisch.
Martin R. Dean: «Warum wir zusammen sind» (Jung und Jung). Was hält die Liebe in einer Zeit der Lieblosigkeit und der Hektik zusammen?
Franz Dodel: «Nicht bei Trost: Capricci» (Ed. Korrespondenzen). Ein gelassenes, stetig fortlaufendes Innewerden des eigenen Lebens in poetischer Form.
Francesco Micieli: «Vom Verschwinden der Cousine» (Zytglogge). Eine Cousine rührt Erinnerungen an die eigene Migrationsgeschichte auf.
Ilma Rakusa: «Mein Alphabet» (Droschl). Ein Wörterbuch des Lebens in kurzen, oft anekdotischen Kapiteln.
Wer tötete die Journalistin, die in einem Badeort in den Hamptons arbeitete? Wer ist der Schuldige eines Vierfachmordes, den die junge Frau untersuchte? Diese Fragen stehen am Anfang des vierten Romans des Genfers Joël Dicker, dessen Arbeit in über vierzig Sprachen übersetzt wurde. Die Gliederung im Stil einer amerikanischen Serie funktioniert, hinterlässt aber nicht den Eindruck eines Patentrezepts. Joël Dickers Stil ist glatt, sein Text mit Standardausdrücken durchsetzt. Die Figuren sind karikaturenhaft, zum Beispiel dieser New Yorker Anwalt, der Star der Kanzlei – mit Namen Starr. Aber: Kritiker, haltet euch nicht auf! Der Autor lässt diese Botschaft von einem Meta Ostrovski überbringen. Die Maxime dieses Literaturkritikers: «Niemals lieben. Lieben bedeutet schwach sein.» Dieser Seitenhieb auf die unvermeidlichen Verächter des Krimis spiegelt das ganze Buch: ein bisschen naiv, ein bisschen Kasperle. Der schuljungenhafte Schalk bewahrt die Geschichte zumindest vor einer gewissen Plattheit.
Roland Buti, «Grand National» (Zoé), Prägnanter und liebevoller Roman über einen Mann mittleren Alters in Krise.
Pascal Janovjak: «Le Zoo de Rome» (Actes Sud), Ein Besuch im Zoo von Rom wird zum Spiegel der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Collectif, «Tu es la sœur que je choisis» (éd. D`En Bas), Westschweizer Autorinnen zum Schweizer Frauenstreik vom 14. Juni 2019.
Blaise Hofmann, «la fête» (Zoé), «Fête des Vignerons» 2019 – Die Abenteuer eines der Librettisten des Spektakels.
Laurence Boissier: «Safari» (art&fiction / Der gesunde Menschenversand). Kurze pointierte Beobachtungen aus dem Alltag des Allzumenschlichen, in Deutsch, Französisch und Berner Dialekt.
Alessandro moderiert eine nächtliche Radiosendung, in der die Zuhörerinnen und -hörer anrufen und frei sprechen können. Nach einem Aussetzer während der Sendung muss er Ferien nehmen. Auf der anderen Seite des Ozeans findet der krisengeschüttelte Moderator langsam wieder zu sich selbst. Die Kapitel der Zuhöreranrufe sind geschickt im Wechsel mit der Chronik seines Amerikaaufenthalts angeordnet. Der schmale Band, mal ernst und beobachtend, dann wieder absurd und amüsant, öffnet immer neue Geschichten- und Musikfenster. Dabei helfen die QR-Codes am Ende der Zuhöreranrufe. Mit dem Handy gelesen, wird das Musikstück über YouTube abgespielt.
Pierre Lepori, 1968 in Lugano geboren, lebt in Lausanne. Der Autor und Kulturkorrespondent des Schweizer Radios hat «Effetto notte» selbst ins Französische übersetzt.
Flavio Stroppini, «Comunque. Tell» (Capelli), Die Legende Wilhelm Tell in bitter-ironischem Tonfall erzählt und illustriert.
Marco Zappa, «AlVentAlBoffa...Ammò» (Dadò), Zum 70. Geburtstag des Tessiner Musikers seine wunderbaren Liedertexte.
Matteo Terzaghi: «La terra e il suo satellito» (Quodlibet) / «Die Erde und ihr Trabant» (Brotsuppe). Poetisch-philosophische Miniaturen über die Kindheit, das Schreiben, die Welt. In Deutsch und in Italienisch.
Bub wird er genannt. Nach dem Selbstmord des Vaters wächst er bei den Grosseltern und der Urgrossmutter in einem Bündner Bergdorf auf. Der einarmige Grossvater prägt sein Heranwachsen mit seinen historischen Zitaten, den schrägen Ideen und den philosophischen Gedanken genauso wie die schweigsame, aber tonangebende Grossmutter. Jede Textseite ist eine tiefgründige Miniatur auf den Spuren der Familiengeschichte des Jungen und seiner Charakterbildung. Die Sprache von Leo Tuor ist einfach, scheinbar leicht und poetisch.
Erstmals 2002 erschienen, liegt das Buch des rätoromanischen Autors nun in überarbeiteter und zweisprachiger Fassung vor. Peter Egloff hat die exquisite Prosa hervorragend ins Deutsch übertragen. Leo Tuor, 1959 in Graubünden geboren, lebt im Val Sumvitg (Surselva, GR).
Eine junge Frau steht zuäusserst auf einem Dach und droht herunterzuspringen. Fast zwei Tage lang steht sie da und zwingt eine ganze Stadt in ihren Bann. Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau, nutzt den Vorfall, um eine Fülle von Figuren verschiedener Generationen in ihrer Reaktion darauf vorzuführen und jeder ein individuelles Leben zu geben. Dazu gehören alte Menschen, die vom Leben zermürbt sind, junge, für die noch alles möglich ist, und solche der mittleren Generation, die von ihren beruflichen Verpflichtungen fast aufgefressen werden. Da ist Manu, die Frau, die springen will, und ihr cooler Freund Finn, ein Velokurier, da sind zwei resignierte ältere Leute, die mit ihrem Lebensmittelladen immer tiefer in die roten Zahlen kommen, da ist ein Obdachloser, der den Passanten Zettelchen mit Fragen verkauft, eine Pubertierende, die sich was antun will, um vom Schwimmunterricht fernzubleiben, oder Roswitha, die Besitzerin des Cafés, das den Treffpunkt für die Figuren liefert. Simone Lappert erzählt von den einzelnen Charakteren wunderbar anschauliche Geschichten, lässt das Rätsel von Manu und ihres Sprungs aber bewusst im Ungewissen. Der Einfall mit dem im Netz der Feuerwehr endenden Sprung mag etwas konstruiert anmuten, die Darstellung der einzelnen Figuren und ihrer Leiden und Freuden aber macht aus dem Buch nichts weniger als ein Ereignis und erinnert an Carson McCullers Roman «The Heart is a lonely Hunter» von 1940, wo ebenfalls anhand einer Reihe einprägsamer Figuren eine ganze Stadt zu intensivem Leben erweckt wird.
CHARLES LINSMAYER
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