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  • Kultur

«Wir müssen reden»: Über den Zwiespalt des Erbens

06.12.2024 – Theodora Peter

Nach einer Politkarriere in der Schweiz wanderten Stephanie und Ruedi Baumann vor über 20 Jahren nach Frankreich aus, wo sie ihre Ideale einer naturnahen Landwirtschaft verwirklichten. Nun sollen ihre Söhne das Lebenswerk weiterführen. Doch wollen die das überhaupt? Im Dokumentarfilm «Wir Erben» thematisiert Sohn und Regisseur Simon Baumann den Zwiespalt als Verwalter von Hinterlassenschaften.

Felder und Wiesen, soweit das Auge reicht. An wolkenlosen Tagen sind am fernen Horizont die Pyrenäen zu erkennen. Hier, in der Gascogne, tausend Kilometer von der Schweiz entfernt, bauten das Bauernpaar Stephanie und Ruedi Baumann auf einem abgelegenen Hof ein ökologisches Paradies auf. Den Biohof im bernischen Suberg hatten sie bereits Anfang der Nullerjahre dem jüngeren Sohn Kilian übergeben. Er führt als Kleinbauer und als Nationalrat der Grünen auch die politischen Kämpfe seiner Eltern weiter. Stephanie und Ruedi Baumann gehörten in den 1990er-Jahren zur nationalen Politprominenz – als erstes Ehepaar im Bundesparlament: sie als Sozialdemokratin, die sich für soziale Gerechtigkeit engagierte; er als pointierter Grüner, der sich mit der mächtigen Landwirtschaftslobby anlegte. Einen anderen Weg schlug der ältere Sohn Simon ein. Viel mehr als Landwirtschaft und Politik interessierte ihn Musik und Kunst: «Im Filmemachen entdeckte ich die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen und meinen Eltern doch nahe zu bleiben.»

Die Idee, einen Film zum Thema Erben zu drehen, trägt der heute 45-Jährige mit sich herum, seit er vor neun Jahren selber Vater wurde. «Meine Partnerin und ich stellten uns die Frage, welche Werte und Lebenseinstellungen wir unseren eigenen Kindern weitergeben werden», erklärt der Regisseur im Gespräch mit der «Revue». Die Filmidee schlummerte weiter, bis Baumanns Eltern – heute 73 und 77 Jahre alt – mit den Söhnen über die Zukunft des Betriebs in Frankreich sprechen wollten. «Ich sagte: Okay, lasst uns reden, aber ich mache einen Film darüber.» Simon Baumann packte Kamera- und Tonausrüstung ein und fuhr mehrmals Richtung Süden, um seine Eltern in ihrem Alltag und bei der Arbeit in Haus und Hof filmisch zu begleiten. Immer wieder kontrastiert er deren Wahrnehmung mit seiner eigenen Perspektive.

Simon Baumann (*1979) hat Medienkunst studiert und arbeitet als freischaffender Filmemacher und Produzent. Er lebt mit seiner Familie in Suberg im Kanton Bern. Foto: Ton und Bild GmbH

Während die Kamera über die Ländereien schweift, kommentiert der Autor aus dem Off: «Ich sehe Ackerland, Einsamkeit, Langeweile. Meine Eltern sehen Artenvielfalt, ökologisch wertvolle Hecken, pestizidfreie Böden.»

«Wir Erben» ist ein radikal persönlicher Film, der jedoch universelle Fragen aufwirft: Was prägt uns und wie? Wie gehen wir mit Erwartungen um? Aber auch: Wie gerecht ist es, Besitz zu vererben? Im Dokumentarfilm lässt der Autor das Kinopublikum teilhaben an den familieninternen Diskussionen zur Frage, was mit dem Gut in Frankreich passieren soll, wenn sich die Eltern eines Tages nicht mehr darum kümmern können. Während Vater Ruedi dafür plädiert, dass der Hof in der Familie bleiben soll, sieht Sohn Simon darin eher eine Last. Und stellt sich im Film grundsätzliche Fragen: «Ich erbe von meinen Eltern Eigentum und das Bewusstsein für Gerechtigkeit. Aber die zwei Sachen passen nicht zusammen. Wo ist die Gerechtigkeit, wenn ich Eigentum erbe und andere nicht?»

Dieses unlösbare Dilemma zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Der Autor möchte damit nicht zuletzt eine Debatte anstossen. «Wenn in der Schweiz transparenter wäre, wem der Boden gehört und wer sich Land überhaupt leisten kann, würde man auch mehr über Gerechtigkeit sprechen.»

Darüber hinaus zeichnet Simon Baumann in «Wir Erben» ein aufschlussreiches Familienporträt. Er erzählt vom Aufbruch seiner Eltern, die sich entfalten und – als Teil der 1968er-Generation – aus bürgerlichen Konventionen ausbrechen konnten. Die Arbeitertochter Stephanie Bieri und der Bauernsohn Ruedi Baumann heirateten 1974 heimlich – «eine traditionelle Hochzeit wäre ihnen zu bourgeois gewesen» – und reisten ohne Geld und per Autostopp nach Afrika. Zwei junge Menschen, welche die Welt verändern, aber auch in Beruf und Gesellschaft vorankommen wollten: «Für sie gingen Türen auf, die für ihre Vorfahren verschlossen blieben.» Das politische Engagement seiner Eltern, zunächst im Kantonsparlament, später im Nationalrat, beobachtete Simon Baumann als Bub mit gemischten Gefühlen: «Ich schämte mich für sie, bewunderte sie, litt mit ihnen.» 

«Im Filmemachen entdeckte ich die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen und meinen Eltern doch nahe zu bleiben.»

Regisseur Simon Baumann

Mit der Auswanderung nach Frankreich zogen sich die Baumanns Anfang der Jahrtausendwende aus der Politik zurück. Bis heute schauen sie kritisch auf die Schweiz, wie beim Gespräch mit der «Schweizer Revue» deutlich wird. «Ich hätte gerne eine Schweiz, die in Europa aktiv mithilft, die Probleme zu lösen, statt sich weiterhin als Profiteurin aufzuführen», sagt Ruedi Baumann. Auch für Stephanie Baumann sollte die Schweiz «eine Rolle spielen in der Welt, statt sich davon abzuschotten». In Frankreich, wo beide nach fünf Jahren Aufenthalt eingebürgert wurden, fühlen sie sich gut integriert. Als Zuzüger seien sie damals im Dorf mit offenen Armen empfangen worden – und fragten sich danach, «ob Neuankömmlinge in der Schweiz auch so herzlich willkommen geheissen würden».

Im Laufe der Jahre knüpften die beiden Auslandschweizer viele Freundschaften. Doch mit dem Älterwerden häufen sich im Bekanntenkreis Krankheiten und Todesfälle. Die Frage nach der eigenen Zukunft wird dringlicher – und belastet Stephanie Baumann: «Was passiert, wenn jemand von uns beiden krank oder pflegebedürftig wird?» Der abgelegene Hof, der nur mit dem Auto erreichbar ist, eignet sich nicht als Alterswohnsitz: «Wenn wir nicht mehr mobil sind, können wir nicht mehr hier leben.» Möglicherweise kehren Baumanns dann in die Schweiz zurück, in die Nähe ihrer Söhne und der fünf Grosskinder. Und für die Zukunft des Hofs zeichnet sich eine Lösung ab.

«Wir Erben» startet ab Januar 2025 in den Schweizer Kinos. www.wirerben.ch 

«Ich sehe Ackerland, Einsamkeit, Langeweile. Meine Eltern sehen Artenvielfalt, ökologisch wertvolle Hecken, pestizidfreie Böden.»

Regisseur Simon Baumann

«Hilfe, ich erbe!»

Was uns in die Wiege gelegt wird, prägt uns – und entscheidet mit, ob wir auf der Sonnen- oder Schattenseite des Lebens stehen. Ob es sich bei einer Erbschaft um Geld, Gene oder Werte handelt: Sie kann Segen oder Fluch sein, Privileg oder Last. Und sie kann ein Gefühl von tiefer Verbundenheit auslösen oder die Lust, sich von Altlasten zu verabschieden.

Die Ausstellung «Hilfe, ich erbe!» im Generationenhaus Bern thematisiert die verschiedenen Facetten im Umgang mit dem Erben und lädt das Publikum ein, sich mit den eigenen Wurzeln und Prägungen auseinanderzusetzen. Zu sehen sind zudem mehrere Videoporträts, die der Filmemacher Simon Baumann für die Ausstellung gedreht hat.

Die Ausstellung im Generationenhaus Bern dauert bis 26. Oktober 2025.

www.begh.ch/erben

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