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Fabian Cancellara steht vor der letzten Saison als Radprofi. Seine Karriere war erfolgreich – aber er hat längst dazu eingewilligt, dass sie unvollendet bleibt.
Fabian Cancellara hat einen Sinn für Symbolik. Er lässt sich gerne inszenieren oder inszeniert sich gerne selber. Auf dem Weg zu einem grossen Sieg hielt er einst seinen Glücksbringer in die TV-Kamera, ins Ziel fuhr er mit der Schweizer Fahne in der Hand. Aber es gab vor allem dieses Bild: Cancellara in einem Hotelzimmer, den Kopf auf dem Kissen, die Augen geschlossen, als schlafe er – und zwischen Kopf und Kissen das Maillot jaune, das Trikot des Leaders der Tour de France – Cancellara und die Tour, ein Ausdruck von Verbundenheit. Im Juli werden sie sich ein letztes Mal begegnen, Ende Saison tritt er zurück.
Es liegt ein Weilchen zurück, als er sich ausmalte, wie es sein würde als Radprofi im Ruhestand. Vor rund einem Jahr bereits entschloss sich Cancellara zum Rücktritt per Ende 2016. Er sagte, er freue sich, nicht einfach nur ein Wochenende zu Hause zu sein, sondern mehrere Wochenenden hintereinander. Damals lag der Abschied noch weit entfernt. Aber Cancellara brauchte diesen Halt, er brauchte dieses Wissen, wann er aufhört – alles andere hätte ihn zu sehr abgelenkt, die ewigen Fragen, von anderen, aber nicht minder von sich selber, wie lange er noch fahren wolle.
Vor allem aber brauchte er einen guten Grund für den Rücktritt, und so rechnete er vor, wo er zuletzt gewesen war, in Trainingslagern auf Gran Canaria und Mallorca, bei Sponsoren in Genf und Barcelona, an einem Geburtstagsfest in St. Moritz, an einem Rennen in Katar, immer unterwegs. Dieses Leben lebte er seit Jahren, und wenn er wieder einmal erzählte, wie gut es ihm eigentlich gefiele, einfach daheim zu sitzen, so fragte man sich, wieso er es nicht macht, zu Hause sitzen – wieso er seit Jahren immer wieder diesen Weg auf sich nimmt, den Körper in Schwung zu bringen für einige Rennen, diesen Körper, der sich doch so gerne mit gutem Essen verwöhnen lässt.
Warum? Weil er nichts anderes kennt. Weil sein Körper dazu gemacht war, Radrennen zu fahren, zu gewinnen. Sein Weg hatte etwas Leichtes, er war vorgezeichnet, seit früher Jugend, als Cancellara für Siege 200 Franken bekam, manchmal steckte er sich eine Hunderternote ins Portemonnaie und kaufte sich damit am Montag das Pausenbrot. Das erste Rennrad hatte Lederriemen an den Pedalen, es war ein Geschenk des Vaters. Er war 1965 aus Süditalien in die Schweiz eingewandert – in der Schweiz arbeitete er später als Lüftungsmonteur, die Mutter, eine Ostschweizerin, in der Migros. Es war eine Arbeiterfamilie, die am Sonntag um 5 Uhr aufstand und an irgendein Rennen in der Schweiz fuhr, Mutter, Vater, Schwester, Wochenende für Wochenende, ja, Fabian Cancellara kennt nichts anderes. Aus diesem Leben stammt er, und diesem Leben entwuchs er.
In seiner Generation ist Cancellara zum bestverdienenden Schweizer Einzelsportler hinter Roger Federer geworden. Denn er hat die erfolgreiche Karriere gemacht, die ihm viele prophezeit hatten – aber über einen anderen Weg. Cancellara war zu einem künftigen Gewinner der Tour de France stilisiert worden, dem bedeutendsten Radrennen der Welt. Und natürlich trug er zu dieser Stilisierung bei. Als er 2004 erstmals an der Tour teilnahm und sich sogleich ins Leadertrikot einkleiden liess, sagte er: «Die Rennen, die mir gefallen, will ich eines Tages gewinnen: Tour de Suisse, Paris–Roubaix, Tour de France.» Über dieses Vorhaben definierten ihn die Leute lange, und schon in diesem Fall war es so, wie es ihm Jahre später mit dem Rücktritt ergehen sollte: Es drohten die ewigen Fragen, von anderen, aber nicht minder von sich selber, wie lange er noch warten wolle mit dem Projekt Tour-Sieg. Doch nachdem Cancellara die Tour de Suisse 2009 gewonnen hatte und zweimal Paris–Roubaix, 2006 und 2010, die legendäre Kopfstein-Classique – da fällte Cancellara einen wegweisenden Entscheid. Es war das bekannte Muster: Er brauchte Klarheit, für sich selber, für die Karriere und das Leben, für seine Leichtigkeit – und so gab er den Traum vom Tour-Sieg auf. Zu stark hätte er sich verändern sollen für dieses Vorhaben. Er, ein kräftiger Fahrer, hätte leichter werden müssen, um in den Bergen mit den Besten mitzuhalten. Er hätte öfter in der Höhe trainieren müssen, das Leben wäre noch mehr dem Sport zugetan gewesen und noch weniger der Familie. Und wenn ihn die Leute fragten, ob er nicht glaube, dass es möglich sei, die Tour ohne Doping zu gewinnen, so sagte er, «doch», aber er wolle sich gar nicht erst in diese Zwickmühle begeben, «nein, merci». Lieber feiere er noch einige andere Siege, «als dass die Familie, die Freunde und ich mit noch mehr Dopingfragen konfrontiert werden». Cancellara hatte umzugehen gelernt mit der heiklen Thematik, auch ihm waren wiederholt Dopingvorwürfe gemacht, aber nie Vergehen nachgewiesen worden.
Cancellara trug gesamthaft 29 Tage lang das Leadertrikot der Tour, so oft wie kein anderer Schweizer, öfter als Ferdy Kübler und Hugo Koblet, die das Rennen in den 50er-Jahren gewonnen hatten. Aber mit dem Entscheid, den Tour-Sieg gar nicht erst anzustreben, willigte Cancellara in eine unvollendete Karriere ein. Und so kommt es, dass es keine Rolle spielt, was Cancellara 2016 leistet, was er schafft und verpasst. Er kann nichts mehr erreichen, das er nicht schon hat. Es kann ihm um den Beweis gehen, dass er im fortgesetzten Sportleralter nicht zum Sturzpiloten geworden ist, weil er in den letzten Jahren immer mal wieder zu Fall kam. Er kann sich vielleicht rehabilitieren, aber nicht mehr neu erfinden.
Ein letztes Mal bereitet er sich vor, auf die Classiques im Frühjahr, die er schon mehrmals gewann, Flandern-Rundfahrt und Paris–Roubaix, er wird die Tour de Suisse absolvieren und zur Tour de France starten und hoffen, die letzte Woche zu erreichen, wenn der grösste Basar des Radsports in Bern haltmacht. Er wird es noch einmal als Bild mit Symbolkraft verstehen, dass die Tour zu seinem Abschied zu ihm heimkommt. Die Tour bedeutet ihm viel, Bern ebenso und die Schweiz nicht minder, er war nie hin und her gerissen, als was er sich fühlen wolle, als Schweizer oder als Italiener, es gab keinen Identifikationszwang mit der Heimat des Vaters, der mit seinem Sohn nicht einmal Italienisch sprach. Und so viel er umherreiste, so wusste er doch immer, wo er hingehört, nach Bern.
Weit entfernt, in Rio de Janeiro, an den Olympischen Spielen, wird er noch einmal spüren, ob es richtig ist zurückzutreten – oder ob er jung geblieben ist, jung und stark wie zu den besten Zeiten. Im olympischen Zeitfahren möchte er Gold gewinnen. Vielleicht ist gut, dass der Entscheid des Rücktritts längst gefällt ist. Ein Olympiagold würde es andernfalls bestimmt schaffen, ihn wieder ins Grübeln zu bringen. Wer ihm nahe ist, weiss ganz gut, dass sich Cancellara auch fürchtet vor dem Rücktritt, davor, plötzlich viel Freiraum zu haben, aber nicht mehr diese Bedeutung wie in einem Feld von Radfahrern.
Er freut sich auf die Wochenenden zu Hause. Doch wie war es letzthin einmal, als er daheim war, die Frau ausgeflogen mit den beiden Töchtern, Cancellara allein, nur er und die Katzen? Es kam ihm seltsam vor, er fühlte sich verloren. Wenn die Karriere zu Ende geht, beginnt für Spitzensportler ein neues Leben.
Fabian Cancellara wurde am 18. März 1981 in Wohlen bei Bern geboren. Er gehört zu den weltweit erfolgreichsten Radrennfahrern und weist von den Schweizer Fahrern der Gegenwart die mit Abstand meisten Siege auf. Cancellara war viermal Weltmeister im Einzelzeitfahren, dreimal gab es in der Disziplin WM-Bronze. 2008 gewann er an den Olympischen Spielen in Peking die Goldmedaille im Zeitfahren und Silber im Strassenrennen. Der zweifache Familienvater gewann ausserdem diverse Eintagesrennen und drei Rundfahrten, darunter 2009 die Tour de Suisse.
Kommentare
Kommentare :
I wish Fabian alles Gute in his retirement. I read that he will be doing the Swiss race one more time, if I can manage it, I would love to see that! Who knows......