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Das grosse Spiel im kleinen Land

10.05.2024 – Benjamin Steffen*

Im Juni nimmt das Schweizer Fussballnationalteam einmal mehr an einer Endrunde teil. Damit schreibt es die Erfolgsgeschichte der Integration weiter. Was dabei überschattet wird: die verpasste Frauenförderung.

Ein ganz normales Schweizer Fussball-Länderspiel: Prall gefüllte Restaurants, in denen Schweizerdeutsch geredet wird oder Französisch oder Italienisch; Autos mit Schweizer Nummern; Fans mit Schweizer Fahnen oder roten Trikots des Schweizer Männer-Fussballnationalteams.

Ein ganz normales Schweizer FussballLänderspiel, ausgetragen in Pristina, der Hauptstadt von Kosovo, im September 2023.

Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri, die prägenden Schweizer Fussballer des letzten Jahrzehnts, haben kosovarischen Migrationshintergrund, «Xhaka, you’re in the heart of Kosovo», stand auf einem Plakat, das ein Kind in die Höhe hielt. Xhaka selber sagte, in Pristina fühle er sich zu Hause. Von hier seien seine Eltern einst ausgewandert, «um mir und meinem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen».

Xhakas Bruder heisst Taulant, er spielte für das albanische Nationalteam, an der Europameisterschaft 2016 trafen sie aufeinander, in einem ganz normalen Schweizer Fussball-Länderspiel.

Oder es gibt Breel Embolo, ebenso aus Basel wie die Brüder Xhaka, geboren in Kamerun. An der Weltmeisterschaft 2022 spielte er gegen sein Geburtsland. Er schoss sogar das Siegtor. «Breel ist für mich wie ein kleiner Bruder», sagte der gegnerische Trainer nach einem ganz normalen Schweizer Fussball-Länderspiel.

Der Fussball lässt Länder und Leute verschmelzen – der Fussball als Integrationsmotor, ein weitverbreitetes Phänomen, das in der Schweiz schon früher grösser war als anderswo.

Es begann mit einem Spieler wie Severino Minelli, geboren 1909; sein Vater war um die Jahrhundertwende mit der ersten italienischen Einwanderungswelle in die Schweiz gekommen. 1930 debütierte Minelli im Nationalteam, er absolvierte 80 Länderspiele und war einst der Schweizer RekordNationalspieler. Diesen Status hat heute Xhaka, im Herzen der Schweiz, im Herzen von Kosovo.

Der erste Schweizer Nationalspieler mit kosovarischem Hintergrund, Milaim Rama, debütierte 2003, früher als in anderen Ländern.

Der erste Schweizer Nationalspieler mit türkischem Hintergrund, Kubilay Türkyilmaz, debütierte 1988, über zehn Jahre früher als Mustafa Dogan in Deutschland.

Auf Türkyilmaz folgten die Brüder Yakin, Hakan und Murat, der heutige Nationaltrainer. Nach Murats Geburt in Basel 1974 dauerte es fast 20 Jahre, bis er das Schweizer Bürgerrecht erhielt. Lange war erzählt und geschrieben worden, sogar Bundesrat Adolf Ogi solle Yakins Einbürgerung als Angelegenheit von «erheblichem nationalem Interesse» bezeichnet haben. Diese Geschichte vom Engagement des sportbegeisterten Regierungsmitglieds klang gut, aber stimmte nicht. Es ist bloss so, dass sich Ogi einst im Namen des Bundesrates dahingehend geäussert hatte, «in Ausnahmefällen» könnten «Einbürgerungsgesuche beschleunigt behandelt werden», vor allem, «wenn ein erhebliches öffentliches Interesse» bestehe. Bei Yakin aber sei «keine beschleunigte Behandlung» erfolgt.

Manchmal wird der Integrationsmotor stärker geredet, als er ist. Türkyilmaz musste sich als «Drecktürke» beschimpfen lassen, Nationalspieler hin oder her. Er trat vorübergehend aus der Auswahl zurück, obwohl die Herkunft im Team selber vermutlich selten ein Thema war. «Wenns drauf ankommt, haben alle dasselbe Ziel, da spielt es keine Rolle, ob du Secondo bist oder nicht», sagte Hakan Yakin 2016 in der «NZZ am Sonntag». Yakin war gefragt worden, ob es intern besprochen werde, wenn ein Spieler – wie einst Stephan Lichtsteiner – von «richtigen» und «anderen Schweizern» rede. Hakan Yakin sagte: «Im Nationalteam konzentrierst du dich aufs nächste Spiel. Oder haben Sie das Gefühl, dass die Spieler am Tisch sitzen und darüber diskutieren wollen?» Alles ganz normal.

Von Minelli über Türkyilmaz bis Xhaka: Sie stehen dafür, wie sehr das Nationalteam politische Entwicklungen spiegelt, Einwanderungsströme, Kriege; und wie der Schweizer Fussball davon profitiert.

Den letzten nachhaltigen Einfluss hatte die Migration aus Osteuropa, als Folge des Balkan-Krieges in den neunziger Jahren. Die Schweizer Nationalmannschaft nimmt regelmässig an Welt- und Europameisterschaften teil. In den vergangenen 20 Jahren verpasste sie ein einziges Turnier, die EM 2012; auch an der bevorstehenden EM in Deutschland ab Mitte Juni 2024 wird sie dabei sein. Und seit 2014 überstand sie stets auch die Gruppenphase, an der WM 2014, EM 2016, WM 2018, EM 2020, WM 2022, im Gegensatz zu Spanien, Deutschland, England, Portugal, Belgien oder Kroatien.

Die kleinen Schweizer im Fussball ganz gross. In jeder Hinsicht. Granit Xhaka spielt bei Bayer Leverkusen, einem Spitzenteam der deutschen Bundesliga; Yann Sommer spielt bei Inter Mailand, einem Spitzenteam der italienischen Serie A; Manuel Akanji spielt bei Manchester City, einem Spitzenteam der englischen Premier League, Champions-League-Sieger 2023.

Und es trifft auch umgekehrt zu: Der Fussball ist in der kleinen Schweiz ganz gross. In den vergangenen Jahren hat er immer mehr Menschen erfasst, es gibt reihenweise Fussballklubs mit Wartelisten für ihre Juniorenteams, es gibt kaum ein Wochenende, an dem nicht fast jeder Fussballplatz des Landes besetzt ist, von Alt und Jung mit Familiengeschichten aus nah und fern.

Und so ist diese Geschichte des Integrationsmotors das grosse Ganze und helle Schillernde, das vieles in den Schatten stellt. Im August 2022 verzeichnete der Schweizerische Fussballverband (SFV) 179 Nationalitäten, verteilt auf 300 000 Lizenzierte; der Anteil von Spielerinnen und Spieler mit einem ausländischen Pass, teils auch Doppelbürger, betrug 34 Prozent. Damals veröffentlichte der SFV eine umfassende Untersuchung zur «Sozialen Integration in Schweizer Fussballvereinen». Bei allen erfolgreichen Bemühungen stellte die Studie auch fest, dass Menschen mit Migrationshintergrund «deutlich öfter von Diskriminierung im Verein betroffen» seien als Menschen ohne Migrationshintergrund, «jedes zehnte immigrierte Mitglied berichtet davon».

Geraldine Reuteler (SUI, 6) in Aktion. Foto Steffen Prößdorf / Wikimedia Commons

Und was ebenfalls im Schatten steht, um nicht zu sagen: Diskriminiert wird – der Fussball der Frauen. Mit der Gleichstellung der Geschlechter im Fussball tut sich die Schweiz schwer. Immerhin gibt es ein Bewusstsein dafür. Zum Start der Frauen-WM im Sommer 2023 veröffentlichte der SFV ein Filmchen, das eine Familie am Esstisch zeigte. Die Tochter fragte den Vater, ob sie die WM schauen würden, worauf der Vater sagte: «Diesen Sommer ist keine WM.» Die Tochter blieb beharrlich, worauf der Vater merkte: Aha, die Frauenauswahl. Seine Gegenfrage: «Kennt man die?»

Eigentlich schon.

Ramona Bachmann spielte bis vor kurzem bei Paris Saint-Germain, einem Spitzenteam der französischen Division 1 Féminine, und ist seit Neustem bei den Houston Dash (USA) in der National Women’s Soccer League; Lia Wälti spielt bei Arsenal, einem Spitzenteam der englischen FA Women’s Super League; Riola Xhemaili spielt beim VfL Wolfsburg, einem Spitzenteam der deutschen Bundesliga.

Aber es ist wie einst bei Murat Yakin: Der Frauenfussball erfährt in der Schweiz «keine beschleunigte Behandlung». Zu wenig «erhebliches öffentliches Interesse»? Vom Profitum ist die Women’s Super League weit entfernt. Im Nachwuchs ist laut Insidern keine Spur von Chancengleichheit für Mädchen und Buben betreffend Trainerqualität oder Zugängen zu Schul-und-Sport-Lösungen.

Wenn Frauen den Aufbau von Mädchenteams forcierten, kam’s schon vor, dass Männer fragten, ob sie nicht endlich aufhörten damit. Und in manchen Klubs ist es noch immer so: Männer bekommen die besseren Trainingszeiten, eher neue Trikots und öfter Meisterschaftsspiele auf dem Hauptfeld. Es gibt noch immer wenig Trainerinnen, weil es vor 20 Jahren auch noch viel weniger Fussballerinnen gab; und es gibt noch kaum Kurse für Trainerinnen, obwohl Frauen schon mehrfach darauf hingewiesen haben, dass es nicht immer angenehm sei, als einzige Frau in einen Trainerkurs zu kommen.

Alles ganz normal?

Ausgerechnet in der Förderung des Frauenfussballs hinkt das Integrations-Vorbild anderen europäischen Ländern hinterher. Im Sommer 2025 findet in der Schweiz die Europameisterschaft der Frauen statt, es soll ein Fest werden mit lauter ausverkauften Spielen, mit prall gefüllten Restaurants, in denen Schweizerdeutsch geredet wird oder Französisch oder Italienisch oder Albanisch et cetera; Autos mit Schweizer Nummern; Fans mit Schweizer Fahnen oder roten Trikots des Schweizer Frauen-Fussballnationalteams. Der Sommer 2025 wird die Prüfung sein, ob der Integrationsmotor des Schweizer Fussballs stark genug ist, um auch Frauen stärker einzubinden.

*Der Autor begleitete als Journalist das Schweizer Männer-Nationalteam von 2004 bis 2024.

Fotos der Fussballspieler:innen: Alamy, Players Forumfree, Schweizerischer Fussballverband/football.ch

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