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  • Kultur

Der erste Schweizer Filmfreak war ein Pater

19.05.2017 – Susanna Petrin

Eine der weltweit wichtigsten Filmsammlungen wurde einst von Abbé Joye in Basel angelegt. Heute ist sie in London, doch könnte sie zurück in die Schweiz gelangen?

Auf den ersten Blick könnte man diese Filmgeschichte leicht unterschätzen – und das wurde sie lange auch, zu lange. Ein Pater sammelt Filme, um sie seinen Schützlingen im Religionsunterricht zu zeigen. Das klingt nett, ist aber eine Sensation. Denn dieser Jesuitenpater namens Abbé Joye, als Joseph Alexis Joye 1852 im Kanton Freiburg geboren und später in Basel wohnhaft, sammelte im Lauf der Jahre Hunderte von Filmen. Heute gilt die Sammlung als eine der weltweit wichtigsten und grössten Filmkollektionen aus der Anfangszeit des Kinos. «Das ist nicht irgendetwas unter anderem, das ist eine Bombe», sagt auch die auf Stummfilme spezialisierte Schweizer Filmhistorikerin Mariann Lewinsky-Sträuli. In Artikeln und Büchern ist von 1300 bis 2500 Filmen die Rede. Sicher ist: Der grösste Teil der Filme stammt aus den Jahren 1905 bis 1912, manche reichen bis ins Jahr 1919. Abbé Joye kaufte sie auf dem deutschen Occasion-Filmmarkt nach und nach zusammen.

Die Genres reichen vom Drama über Kinder-, Märchen- und Trickfilme bis zu Kriegsschauen sowie dem, was man heute Dokfilme nennt – «Land, Natur, Städtebilder und Sitten», heisst es in einer Katalogisierung. Ein Film dauert zwischen drei und fünfzehn Minuten. Für eine Filmvorführung stellte der Pater jeweils zehn bis fünfzehn Filme zusammen, vermutet Mariann Lewinsky. Ein «komponiertes Programm» also, «ein unglaublich schönes Kino, reich an Genres und verschiedensten Ästhetiken, dazu total unterhaltend».

Geschnittene Kussszenen

Fixe Spielstätten so wie heute gab es damals nicht. Stattdessen zogen mobile Wanderkinos von Ort zu Ort, um immer wieder dieselben Filme zu präsentieren. Abbé Joye dagegen führte immer wieder neue Filme am selben Ort vor. Ein Paradigmenwechsel. Deshalb brauchte er auch eine anständige Sammlung. Urbanen Legenden zufolge schmuggelte er so manchen Film unter seiner Soutane von Deutschland nach Basel. Kussszenen soll er herausgeschnitten – oder bei den Vorführungen in diesen Momenten die Kinder abgelenkt haben. So genau wissen wir das über 100 Jahre später nicht. Nicht einmal, ob er alles, was er sammelte, auch zeigte. Lewinsky bezweifelt das. Denn in der Sammlung befindet sich auch der ausgesprochen antikatholische Film «Les Martyrs de l’Inquisition» von 1905.

Der Schweizer Filmhistoriker Roland Cosandey hat Joyes Geschichte und Werke als erster im Buch «Welcome Home, Joye! Film um 1910» dokumentiert. 1886 war Joye als Vikar und Religionslehrer nach Basel berufen worden. Einige Jahre später entstand das Waisenknabenhaus Vinzentianum, das seit 1905 Borromäum heisst. Dort, im Saal für Sonntagsschule und Religionsunterricht, führte er seine Filme vor. Der Pater begann mit Laterna-Magica-Projektionen. Bemalte Glasplatten, mit Licht projiziert. Tausende habe er hergestellt, heisst es. Und schon 1896 besuchte er gemäss Cosandey die ersten kinematografischen Projektionen im Basler Stadt-Casino. Als Joye dann ab 1902 selber auf den Film kam, gab es kein Halten mehr.

Mariann Lewinsky-Sträuli hat übrigens sämtliche seiner Filme visioniert. Dafür musste sie von Zürich nach Berkhamsted reisen, ein Städtchen in der Nähe Londons. Denn dort, im «National Film and Television Archive» des British Film Institute, werden seit 1976 sowohl die Originale als auch die von den Briten erstellten Schwarz-Weiss-Kopien aufbewahrt. In Basel wäre der gesamte Bestand zuvor beinahe zerfallen. Nach dem Tod des Paters im Jahr 1919 waren seine Filme zwar weiterhin regelmässig in der Pfarrgemeinde vorgeführt worden, doch es mangelte offenbar an Verständnis für ihre Empfindlichkeit. 1958 stellte ein Jesuitenpater mit Schrecken fest, dass die Nitratfilme während Jahren in einem Estrich gelagert worden waren. Weder im Kanton Basel-Stadt noch irgendwo sonst in der Schweiz konnte in den folgenden Jahrzehnten ein wirklich sicherer Ort für die Filmsammlung ausfindig gemacht werden – nicht einmal bei der Cinematheque Suisse.

So bewirkte der Jesuit Ende der 50er-Jahre zuerst deren Umzug in ein Lager in Zürich, dann Ende der 70er in das heutige Archiv in England. Er war zudem der erste, der alle Filme katalogisieren liess. Doch dazwischen gelangte die Sammlung in den 60er-Jahren nach Italien, in die Hände von Davide Turconi. Der Filmhistoriker hatte den Eindruck, dass die Filme fast unrettbar verrottet seien. Und er tat, nach bestem Gewissen, etwas im Nachhinein Katastrophales: Er schnitt einzelne Quadrate aus, um damit eine Bilderdokumentation anzulegen; später klebte er die Filme wieder zusammen.

Noch gibt es keine Farbkopien

Joyes Lichtbilder lagern bis heute im Jesuitenarchiv Zürich. Rund 200 Filmkopien finden sich in Italien. Doch alles andere, vor allem die Originale auf Nitrat, sind bei minus 4 bis 5 Grad in Englands grösstem Filmarchiv eingefroren. Damit seien sie vor weiterem Verfall bewahrt, versichert die zuständige Archivarin Bryony Dixon. Sie zählt rund 1200 Titel. Und jetzt? Mariann Lewinsky hat schon vor acht Jahren einen Antrag auf eigene Kopien für die Schweiz erstellt. Zu Sicherungs- und Forschungszwecken. Ausserdem werden die bisherigen Schwarz-Weiss-Kopien den Originalen nicht gerecht, die Nitratpositive sind nämlich zu 80 Prozent in Farbe. Neue Kopien, ob analog oder digital, müssten auf jeden Fall farbig sein. Doch ein solches Projekt wäre enorm aufwendig und teuer. Es bräuchte geschulte Leute, die die Werke scannen und wissenschaftlich bearbeiten könnten. Gemäss Lewinskys Berechnungen bräuchte man vier Millionen Franken.

Wer auch immer sich mit Joyes Sammlung auseinandersetzt, erkennt ihre Bedeutung, und dass es schön wäre, sie in der Schweiz zu haben. «Es wäre grossartig, wenn ein Projekt zustande käme, damit die Joye-Filme auf restaurierten Filmkopien in geretteten Farben für weitere Jahrhunderte gesichert sind und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden könnten», sagt etwa Beat Schneider, stellvertretender Direktor des «Stadtkino Basel». Auch die Staatsarchivarin des Kantons, Esther Baur, zeigt Interesse: «Als erstes müsste man aber genau abklären, was man mit der Sammlung tun will – und kann. Ein solches Projekt müsste breit abgestützt sein.

Die wichtigsten Fragen sind alle offen: Wer zahlt, wer machts, wohin damit? Hinzu kommt, wie Roland Cosandey zu bedenken gibt, dass nur ein sehr kleiner Teil der Filme sogenannte «Helvetica» darstellen, das heisst: Schweizer Sujets zeigen. Das dürfte deren Schweizer Finanzierung erschweren. Aber vielleicht könne man die Sammlung als Ganzes als Helveticum interpretieren aufgrund des Entstehungsorts Basel und des Sammlers Joye.

Lewinsky-Sträuli, die schon manche Filmkollektion gerettet hat, sagt: «Das ist etwas, das nicht erledigt ist für mich.» In einem Antrag schreibt sie: «Die Sammlung dokumentiert in einzigartiger Weise nicht nur die Geschichte der Filmproduktion in der dynamischsten Entwicklungsphase, sondern durch diese hindurch die Welt und Kultur ihrer Epoche.» Man könnte hier alles zusammenführen, könnte Lücken in der Filmgeschichte schliessen, könnte mehr über die damalige Welt erfahren und vieles mehr.

Susanna Petrin ist Kulturredaktorin bei der «bz Basel»

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Kommentare :

  • user
    Reinhard Manz 21.05.2017 um 11:42
    Liebe Frau
    Petrin,

    da gab es ja auch den Film von Isolde Marxer "A apropos de Joye"
    den sie 1996, also bevor die Sammlung nach England ging in Basel realisierte.

    Beste Grüsse

    Reinhard Manz, Grenzach
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