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100 Jahre Welttheater Einsiedeln: Ein Klosterdorf im Bühnenfieber

26.07.2024 – Theodora Peter

Seit 1924 wird vor dem Kloster Einsiedeln alle paar Jahre das «Welttheater» des spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca aufgeführt. Im Laufe der letzten Jahrzehnte interpretierten zeitgenössische Autoren das vierhundert Jahre alte Mysterienspiel neu. 2024 kommt eine Fassung des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss auf die Bühne. Am Freiluftspektakel beteiligen sich 500 Theaterbegeisterte aus dem Klosterdorf.

Vom religiösen Mysterienspiel zum modernen Lehrstück

Die Kulisse in Einsiedeln ist einzigartig. Als Bühne für das «Welttheater» dient der von Arkaden umsäumte Klosterplatz – nach dem Petersplatz in Rom der zweitgrösste zusammenhängende Kirchenvorplatz Europas. Dahinter prangt die imposante Fassade der barocken Kirche. Das Kloster Einsiedeln ist der wichtigste Wallfahrtsort der Schweiz: Die schwarze Madonna in der Gnadenkapelle zieht jährlich Hunderttausende in ihren Bann.

Der spanische Barockdichter Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) schrieb «El gran teatro del mundo» als geistliches Spiel für Fronleichnam.

1917 entdeckte ein heimischer Wissenschaftler, dass der Klosterplatz nach akustischen Gesetzen angelegt wurde und sich deshalb speziell gut für Theateraufführungen eignen würde. Der Abt der Benediktinerabtei gab daraufhin seinen Segen für «geistliche Spiele», und die Wahl fiel auf ein spanisches Mysterienspiel. Der Barockdichter Pedro Calderón de la Barca hatte «El gran teatro del mundo» in den 1630er-Jahren geschrieben. Inhaltlich geht es um das menschliche Dasein, das als ein Theaterstück dargestellt wird. Die Rollen verteilt ein «Schöpfer», der wiederum die «Welt» mit der Inszenierung beauftragt. Zu den sinnbildlichen Figuren gehören der Reiche, der Bettler, der König, der Bauer wie auch Schönheit, die Weisheit und die Gnade. Während 50 Jahren wurde das «Welttheater» in Einsiedeln in der deutschen Übersetzung von Joseph von Eichendorff nahe beim Original gespielt. 1970 kam es erstmals zu Protesten: Kritische Stimmen störten sich am überholten Bild einer gottgewollten Gesellschaftsordnung, die Machtstrukturen zementiert statt hinterfragt.

Existenzielle Lebensfragen

Es sollten noch weitere 30 Jahre vergehen, bis sich die Organisatoren um eine zeitgenössische Version bemühten. Für die Spielzeiten 2000 und 2007 wurde der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, der einst in Einsiedeln die Klosterschule besucht hatte, mit einer Neuinterpretation beauftragt. Fortan integrierte das «Einsiedler Welttheater» aktuelle Fragen. So stellte in der Spielzeit 2013 der Autor Tim Krohn am Beispiel der Gentechnik die Eingriffe in die Schöpfung und das menschliche Streben nach Perfektion in den Mittelpunkt.

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (*1971) präsentiert 2024 in Einsiedeln eine zeitgenössische Interpretation von Calderóns «Welttheater».

Die jüngste Fassung – wegen der Corona-Pandemie von 2020 auf 2024 verschoben – stammt aus der Feder von Lukas Bärfuss. Der preisgekrönte Schriftsteller gehört zu den prägnantesten Stimmen der aktuellen Schweizer Literatur und ist ein scharfzüngiger Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen. Auch Bärfuss knüpft an die existenziellen Fragen an, die Calderóns Mysterienspiel stellt: «Welches ist meine Rolle im Leben? Wofür bin ich bereit zu sterben? Was ist ein gutes Leben?» Diese Fragen seien ewig gültig, doch die Resonanz dieser Themen in der Gesellschaft habe sich verändert. Vor vierhundert Jahren war das Schicksal eines Menschen bei seiner Geburt mehr oder weniger festgelegt. Wer damals als Bettler zur Welt kam, blieb arm – und hoffte auf Besserung im Himmel. «Heute hat der aufgeklärte Mensch den Anspruch, selbst über sein Leben zu bestimmen.» In Bärfuss’ Version verkörpert eine Frau – Emanuela – Calderóns gesamtes Figurenkabinett. Als Bäuerin schafft sie es, Königin zu werden, verliert die Macht und stürzt ins Elend, bevor sie sich wieder aufrappelt und schliesslich als Greisin von dieser Welt tritt.

Ein dörfliches Grossprojekt

Das Ensemble in Einsiedeln besteht aus dem sogenannten Spielvolk – den rund 250 Laienschauspielerinnen und -schauspielern, die eine Haupt- oder Statistenrolle übernommen haben. Weitere 250 Personen engagieren sich hinter den Kulissen. «Ganz Einsiedeln ist irgendwie involviert», sagt James Kälin, Präsident der Welttheatergesellschaft. Er selber hat das Theatervirus «sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen», erzählte Kälin in einem Radiointerview. Bereits als Bub stand er als Singengel auf dem Klosterplatz, während sein Vater eine Hauptrolle als Bettler spielte. Die Mutter arbeitete hinter den Kulissen als Garderobière – wie zuvor bereits der Grossvater. Auch andere Familien aus dem Klosterdorf sind dem Freilichtspiel seit Generationen verbunden. Von der «unglaublichen Spielfreude der Mitwirkenden» schwärmt seinerseits Regisseur Livio Andreina, der das «Welttheater» 2024 zusammen mit Lukas Bärfuss in Szene setzte. Was in Einsiedeln entstehe, sei einmalig in der Schweiz, gab Andreina in der Lokalzeitung zu Protokoll. «Es ist ein soziales Projekt, das weit über das Theaterspielen hinausgeht und das ganze Dorf miteinbezieht.»

1981 prägt ein grosses P für «Pax» die Bühne. Foto Welttheater Einsiedeln

Im Vorstand der Theatergesellschaft ist auch das Benediktiner-Kloster vertreten, auf dessen Goodwill die Produktion seit 100 Jahren angewiesen ist. In den Anfängen komponierten die Mönche die Musik zu Calderóns «Welttheater», doch ab der Jahrtausendwende gingen auch diese Aufträge an weltliche Musikschaffende. Hingegen stand in den Spielzeiten 2000 und 2007 ein Mönch auf der Bühne. Der 2009 verstorbene Pater Kassian Etter blieb jedoch bis heute der einzige Schauspieler aus der Klostergemeinschaft.

Das «Einsiedler Welttheater» wird noch bis zum 7. September aufgeführt. www.welttheatereinsiedeln.ch

Literaturhinweise:

  • Einsiedler Welttheater. Lukas Bärfuss. Rowohlt Verlag, 2024. 
  • 100 Jahre Welttheater in 100 Geschichten. Walter Kälin. Schwyzer Heft Nr. 115, 2024.

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