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Wir sehen die Alpen gerne als felsenfestes Bollwerk und Inbegriff dauerhafter Naturschönheit. Nun aber bröckeln sie häufiger – in Form von Bergstürzen, Erdrutschen, Schuttlawinen. Hat die Schweiz die Berge noch im Griff?
Im Frühsommer 2023 machte das kleine Dorf Brienz (GR), das über der Albula-Passstrasse in Graubünden liegt, wochenlang Schlagzeilen. Die rund 80 Einwohnerinnen und Einwohner mussten ihre Häuser auf behördliche Anweisung verlassen, weil ein mächtiges Geröllpaket vom Piz Linard auf das darunterliegende Dorf abzurutschen drohte. Schweizer Medien rapportierten jede Bewegung des Bergs minutiös, die Boulevard-Zeitung «Blick» stellte eine Fixkamera auf, über die man online zuschauen konnte, ob der Berg ob Brienz jetzt wirklich kommt.
«A Swiss village is warned to flee its shifting mountainside», titelte die «New York Times» dramatisch. Mit dem abrutschenden Geröll sei es wie mit einem Tornado, zitiert der Reporter der New Yorker Zeitung einen Einwohner von Brienz: Die Steine würden dorthin gehen, wo sie wollten, ob ihnen jemand oder etwas im Weg stehe oder nicht.
Das Bergland Schweiz, so klang es, gerät in Bedrängnis durch seine Berge.
Der Ausnahmezustand von Brienz endete glimpflich. In der Nacht auf den 16. Juni 2023 ging ein Teil des Bergs – eine mächtige Gesteinsmasse, die etwa 300 000 Lastwagen gefüllt hätte – als Schuttstrom ab, drang jedoch knapp nicht bis zu den evakuierten Häusern vor. Verletzt wurde niemand. Wenige Wochen nach dem Niedergang konnten die Menschen wieder in ihr Dorf zurückkehren.
Trotzdem bleibt es in Brienz unruhig. Denn da ist nicht nur der Berg, der kommt. Sondern auch der Boden, der geht: Das Plateau, auf dem das Dorf steht, gleitet mit einer Geschwindigkeit von rund einem Meter pro Jahr langsam, aber kontinuierlich ab. Seit Jahrzehnten. Hauswände und Strassen reissen auf, Leitungen brechen.
Das Erstaunlichste daran: Die Behörden denken trotz Mehrfachbedrohung nicht daran, Brienz aufzugeben. Sie tun alles dafür, dass das Bergdorf dauerhaft bewohnbar bleibt. Ein 40 Millionen Franken teures Labyrinth von Entwässerungsstollen und -bohrungen soll das bewegte Gelände unter dem Piz Linard beruhigen. Bund und Kanton finanzieren kräftig mit, damit die 80 Einwohnerinnen und Einwohner hoffen dürfen, in Brienz eine langfristige Zukunft zu haben.
Dass der bedrohlich rutschende Berg im abgelegenen Albulatal zum grossen Aufreger wurde, ist ein Muster, das Bergsturz-Ereignisse in der Schweiz fast immer begleitet – in den letzten Jahren noch intensiver, weil die Klimaerwärmung der Stabilität im Berggebiet zusätzlich zusetzt. Und damit auch die Medienaufmerksamkeit befeuert.
Die Stilisierung der ewigen Berge zum Hort der Sicherheit und Schönheit funktioniert nur, solange man sie unter Kontrolle hat.
Es geht nicht nur um die objektive Naturgefahr. Sondern meist schwingt unausgesprochen mit, dass bröckelnde Berge auch das schweizerische Selbstverständnis herausfordern. Die Réduit-Strategie im Zweiten Weltkrieg hat den Mythos des Alpenriegels als verlässliche, uneinnehmbare Festung des schweizerischen Widerstandsgeists verankert. Im Falle einer Invasion von Hitlers Truppen hätten sich Armee- und Regierungsspitzen in die versteckten Felsbunker in den Alpentälern zurückgezogen und von dort aus das Land verteidigt.
Die Stilisierung der ewigen Berge zum Hort der Sicherheit und Schönheit funktioniert allerdings nur, solange man sie unter Kontrolle hat. Solange es gelingt, Menschen, Häuser und Verkehrswege dauerhaft vor alpinen Gefahren zu schützen. Plötzlich wird – wie in Brienz – offensichtlich, dass sich Berge bewegen, und zwar eher heftiger als früher. Bringt die unberechenbarer gewordene Geologie den Berg-Mythos zum Bröckeln?
Was geologische Sturzereignisse angeht, empfiehlt Flavio Anselmetti, Professor für Geologie an der Universität Bern, zwei Prozesse auseinanderzuhalten, die oft ineinandergreifen: «Bergstürze, Steinschlag oder Hangrutsche gehören in einem Gebirge wie den Alpen, das sich noch immer hebt, bewegt und gleichzeitig abgetragen wird, zum normalen Geschehen», sagt er der «Schweizer Revue» auf Anfrage.
Was nun dazukomme, sei eine Veränderung der Rahmenbedingungen durch die Klimaerwärmung. In der Erdgeschichte habe es solche Veränderungen in den diversen Wärme- und Kältephasen natürlicherweise immer gegeben. Aktuell aussergewöhnlich sei aber die – für die Zeitrechnung von Geologen – sehr rasche Erwärmung.
Historisch gesehen geht die Schweiz den Weg weiter, Sturzereignisse in den Bergen von schicksalshaften Katastrophen zu zähmbaren Naturgefahren umzudeuten.
Die Natur reagiere auf äussere Veränderungen, indem sie ein neues Gleichgewicht anstrebe, sagt Anselmetti. Die aktuelle, rapide Erwärmung führe «in der Summe zu einer Dynamisierung der ohnehin stattfindenden geologischen Prozesse im Berggebiet», ergänzt der Geologe. Das einleuchtendste Beispiel dafür ist die Erhöhung der Permafrostgrenze. Gemeint ist damit die Zone dauerhaft gefrorener Böden aus Fels oder Schutt oberhalb von rund 2500 Metern. Wird es wärmer, geraten diese Böden in Bewegung. Sie tauen auf und gefrieren wieder, was zu Rutschungen, Sackungen oder Felsstürzen führen kann.
Aus dem Trend zur Dynamisierung sollte man aber nicht vereinfachende Schlüsse ziehen, sagt Geologieprofessor Anselmetti: Etwa, dass jeder Erdrutsch oder Bergsturz eine Folge der Klimaerwärmung sei. Oder dass die Gefahren wegen dem veränderten Klima automatisch grösser würden. Die seit Jahrzehnten bekannte und genauestens beobachtete Schwächezone über dem relativ tief liegenden bündnerischen Brienz zum Beispiel hat keinen direkten Zusammenhang mit der Klimaerwärmung. Andererseits ist es denkbar, dass sich die Situation in aus anderen Gründen instabilen Gebieten zuspitzt, wenn als Folge der Klimaerwärmung zum Beispiel Starkniederschläge zunehmen. Oder wenn der Schutzwald geschwächt wird, weil einzelne Baumarten mit grösserer Trockenheit nicht klarkommen.
Die Geografin Käthi Liechti ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Gebirgshydrologie und Massenbewegungen an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Sie verantwortet die Unwetterschadens-Datenbank, die auch Bergstürze und Steinschläge umfasst und seit über 50 Jahren nachgeführt wird.
Eine klare Aussage über die Zu- oder Abnahme von Schadensereignissen in den Bergen lasse sich aber nicht machen, hält sie fest. Einer der Hauptgründe: Es verändern sich nicht nur die natürlichen Rahmenbedingungen, sondern auch die Art und Weise, wie Behörden und Bevölkerung mit den bröckelnden Alpen umgehen. Die Siedlungsfläche der Schweiz wächst, die Infrastruktur wird wertvoller – damit spitzt sich das Risiko zu, dass zum Beispiel ein Bergsturz grossen Schaden anrichtet. Man könnte sagen: Unabhängig davon, ob die Zahl geologischer Sturzereignisse mit der Klimaerwärmung zunimmt oder nicht, exponierter ist die Schweiz auf jeden Fall geworden.
Wenn im 19. Jahrhundert der Berg kam, akzeptierte man das als unausweichliche Katastrophe. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Gefahrenvorsorge stiessen auf die Skepsis der religiösen Bevölkerung.
Auf der anderen Seite sind laut Liechti die organisatorischen und technischen Schutz- und Überwachungsmassnahmen ausgereifter als früher. Sie meint damit Prognose- und Frühwarnsysteme, aber auch bauliche Massnahmen wie Rückhaltebecken oder Schutzwälle. «Für den Schutz vor Naturgefahren wenden Bund und Kantone heute jährlich mehrere Hundert Millionen Franken auf», sagt Liechti zur «Schweizer Revue». Schäden würden so erfolgreich minimiert: Auf jeden Fall hätten sich die Schadenssummen über die letzten Jahrzehnte hinweg nicht signifikant verändert, so Liechti.
Salopp gesagt: Bröckeln die Berge stärker, erhöht die Schweiz den Einsatz, sie im Griff zu behalten. Historisch gesehen geht sie damit den Weg weiter, Sturzereignisse in den Bergen von schicksalshaften Katastrophen zu zähmbaren Naturgefahren umzudeuten.
1806 hörten die Einwohnerinnen und Einwohner von Goldau (SZ) in der Nacht oben am Rossberg monatelang Wurzeln knacken und sahen im Hang sich öffnende Spalten. Eine Reaktion blieb aus, von vorsorglicher Evakuation redete niemand. Als Anfang September nach starken Regenfällen riesige Gesteinspakete abrutschten, begruben sie fast 500 Personen unter sich und zerstörten einen Grossteil von Goldau.
75 Jahre später liessen sich die Gottesdienst-Besucher in der Kirche von Elm nicht beunruhigen, als sie an einem September-Sonntag krachende Steinschlaggeräusche vernahmen vom Berg, in dessen Innerem Schiefer abgebaut wurde. Im Gegenteil: Neugierige stiegen gar noch die Talflanke hoch. Am Nachmittag fuhr ein gewaltiger Bergsturz ins Tal, bei dem über 100 Menschen starben.
Wenn der Berg kam, akzeptierte man das als unausweichliche Katastrophe. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Gefahrenvorsorge stiessen auf die Skepsis der religiösen Bevölkerung.
Was allerdings die grossen Bergstürze des 19. Jahrhunderts beförderten, war der Geist der nationalen Solidarität. Nach der Katastrophe von Goldau wurde erstmals eine landesweite Spendensammlung organisiert, zu Gunsten der gebeutelten Schwyzer. Diese Art der Hilfeleistung zwischen den Regionen des Landes sei in der Folge als «schweizerisches Markenzeichen propagiert worden», diagnostizierte Christian Pfister, emeritierter Professor für Umweltgeschichte an der Universität Bern. Die Schweiz habe damit ein eigenes Profil der Identitätsfindung entwickelt, das sich von jenem anderer Staaten unterscheidet, schreibt Pfister. In den Nachbarländern seien eher Kriege als Mobilisierungsereignisse für die Sache der Nation genutzt worden.
Das identitätsstiftende Muster, das sich im 19. Jahrhundert andeutete, entwickelte sich weiter. Nach allen drei grossen Bergstürzen des 20. und 21. Jahrhunderts – in Randa 1991, in Gondo 2000, im rechtzeitig evakuierten Bondo 2017 – zeigte sich das zuständige Mitglied des Bundesrats vor Ort auf dem Schuttkegel.
Die vermittelte Botschaft: Das ganze Land unterstützt die betroffene Bevölkerung. Aber auch: Wir tun alles, dem Berg die Stirn zu bieten. Wenn er kommt oder zu kommen droht, räumt man in der Schweiz nicht einfach das Feld – auch nicht, wenn die Lage mit der Klimaerwärmung komplizierter wird.
Was von Goldau 1806 bis heute gleich geblieben ist: Es war nie die Frage, von bröckelnden Bergen gefährdete oder betroffene Siedlungen aufzugeben oder nicht wieder aufzubauen. Sondern stets, sie besser zu schützen. «In dieser Beziehung», sagt Geologe Flavio Anselmetti, «ist das, was wir in Brienz erlebt haben, eine Meisterleistung.» Es sei gelungen, trotz komplexer geologischer Situation die Bewegungen des Bergs korrekt zu deuten und die betroffene Bevölkerung «zum genau richtigen Zeitpunkt zu evakuieren, als das Ereignis tatsächlich eintraf». Besser kann man die Berge eigentlich nicht im Griff haben.
Das bedeutet aber nicht, dass die Beziehung zwischen der Schweiz und ihren unberechenbarer werdenden Bergen keine Retuschen erfährt. Der Profi-Alpinist Roger Schäli weiss, wie sich bröckelnde Berge von nahe anfühlen. Weit über 50 Mal ist er durch die Eigernordwand geklettert, oft über die Route der Erstbesteiger durch das berühmte Schneefeld der Weissen Spinne. Dieses schmilzt heute im Sommer meist komplett ab. «Die Wärme setzt der Eigernordwand unglaublich zu», sagt Schäli. «Es kommt deutlich mehr Wasser herunter, der Steinschlag ist heftiger und andauernder geworden. Einigermassen geschützt ist man in sehr steilen Wandpartien, weil die Steine über einen hinwegfliegen.» Die klassische Route könne heute praktisch nur noch im Winter bei Minustemperaturen begangen werden.
Mit dem, was Profi Schäli in der Extremlage der Eigerwand erlebt, werden auch Hobby-Berggänger konfrontiert. Der Schweizerische Alpen-Club (SAC) führt 153 Hütten im Gebirge, viele von ihnen sind wegen der Klimaerwärmung potenziell gefährdet. 2021 gab der SAC erstmals den Betrieb einer Hütte wegen der Klimaerwärmung auf, die Mutthornhütte im Kandertal wegen akuter Gefahr durch einen Bergsturz. Der geplante Neubau an sicherer Lage kostet 3,5 Millionen Franken.
Die Berge im Griff zu behalten, muss man sich leisten können.
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Wenn das als unwirklich Geglaubte plötzlich zur Wirklichkeit wird.