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  • Aus dem Bundeshaus

Johannes Matyassy | «Im Mittelpunkt stehen Menschen und ihre Schicksale»

07.10.2022 – INTERVIEW: MARC LETTAU

Wer greift drängende Anliegen der Fünften Schweiz auf? Wer hilft Schweizer Reisenden, die im Ausland in eine Notlage geraten? – Beides fällt ins Aufgabenfeld der Konsularischen Direktion im Departement für auswärtige Angelegenheiten. Deren Direktor, Botschafter Johannes Matyassy, spricht von der Herausforderung, sich stets neuen und durchaus schwierigen Fragen zu stellen.

Im Ausland lebende Schweizerinnen und Schweizer sehen sich selber gerne als Botschafterinnen und Botschafter der Schweiz. Sie als Botschafter müssen es wissen: Stimmt diese Selbstwahrnehmung?

Zumindest eines stimmt immer: Wer im Ausland lebt, ist eine Visitenkarte für die Schweiz. Aber ein wenig dürfen wir die in der Fünften Schweiz verbreitete Selbstwahrnehmung auch hinterfragen.

In welchem Sinne?

Sämtliche Schweizerinnen und Schweizer im Ausland hinterlassen positive und negative Eindrücke. Alle sind also mitverantwortlich dafür, wie die Schweiz wahrgenommen wird. Das gilt aber nicht nur für jene, die im Ausland leben, sondern auch für die vielen, die reisenderweise unterwegs sind. Ob damit alle gleich Botschafter, Botschafterin werden, ist eine andere Frage. Sagen wir es so: Jede Schweizerin und jeder Schweizer im Ausland hat zumindest das Potenzial, dies zu sein.

Nahezu 800 000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Kann sich da die Schweiz – genauer Ihre Konsularische Direktion – überhaupt noch um Einzelfälle und individuelle Anliegen kümmern?

Wer im Ausland lebt, ist in aller Regel gut vertraut mit dem Alltag seines Wohnlandes und findet sich alleine zurecht. Für diese Landsleute sind unsere Vertretungen eine Art Gemeinde. Häufiger ersuchen uns ins Ausland reisende Schweizerinnen und Schweizer um Hilfe und konsularischen Schutz. Einige dieser Fälle sind zugleich schwierig und nur mit enormem Aufwand zu lösen.

So wie der Fall der 2020 in Belarus verhafteten Schweizerin Natallia Hersche? Für ihre Freilassung unternahm die Schweiz – dies der Eindruck von aussen – sehr viel.

In der Tat ein hochkomplexer, von enormer medialer Aufmerksamkeit begleiteter und politisch brisanter Fall. Natallia Hersche ist ja schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin. Zunächst galt es zu erreichen, dass die belarussische Behörde dies ebenso sah. Erst danach konnten wir Natallia Hersche Hilfe gewähren. Unser Botschafter in Minsk besuchte sie unzählige Male im Gefängnis. Dazu kamen intensive Verhandlungen zwischen der Schweiz und Belarus auf politischer Ebene. Am Schluss zählt auch dies: Wir liessen nichts unversucht – aber es gab keinerlei «Deal» mit dem Regime in Minsk.

Das Gegenteil eines Einzelfalls: Während der Corona-Pandemie wurden 4200 Menschen mit 35 Flügen zurück in die Schweiz geholt.

Hier sprechen wir von der grössten Rückholaktion in der Geschichte der Schweiz! Zunächst appellierten wir auch da an die Eigenverantwortung. Vielen gelang es tatsächlich, selber die Rückreise zu organisieren. Wir sahen aber rasch, dass dies nicht alle alleine schaffen können. Diese enorm umfangreiche Aktion lässt sich aber schlecht mit anderen sehr intensiven Fällen vergleichen. Geht es etwa um die Heimholung von entführten Kindern oder Jugendlichen aus einem Jihad-Camp, herrscht oft über Monate – manchmal Jahre – grösste Anspannung.

In Notsituationen gewährt die Schweiz ihren Landsleuten im Ausland Hilfe. Was heisst das für binationale Familien: der Vater Schweizer, die Mutter Ausländerin, die Kinder beides?

Eine sehr wichtige Frage. Sie beschäftigte uns auch während der Corona-Rückholaktion. Wir entschieden damals pragmatisch: Man kann in solchen Fällen ja nicht Familien auseinanderreissen, weil die Mutter – als Beispiel – Brasilianerin ist. Wir entschieden: In die Schweiz zurückreisen konnten die ganzen Familien.

Die Schweiz setzt sich für die Anliegen der Fünften Schweiz ein. Das will nicht immer gelingen: Sie kennen die Klagen jener, die in der Schweiz abstimmen und wählen wollen, dies aber faktisch nicht können.

Ja – und ihre Kritik ist für mich absolut nachvollziehbar, zumal ich selbst Auslandschweizer war. Während meiner Zeit in Argentinien erhielt ich das Abstimmungscouvert samt dem Zugangscode, der es mir erlaubte, per E-Voting abzustimmen. Weil der Kanton Genf sein auch von anderen Kantonen genutztes E-Voting-System nicht mehr weiterführen wollte und jenes der Schweizer Post Mängel aufwies, wurden wir sehr weit zurückgeworfen. Erschwerend kommt dazu, dass die Debatte übers E-Voting in der Schweiz heute anders verläuft als in der Fünften Schweiz.

Inwiefern anders?

In der innenpolitischen Debatte stehen die Sicherheitsbedenken klar im Vordergrund: Es darf absolut keine Betrugsmöglichkeiten geben, denn das Vertrauen in Abstimmungsergebnisse ist ein enorm wichtiges Gut. Die Sorge um dieses Gut erklärt die Widerstände in der Schweiz. Prüfenswert wäre – aus meiner ganz persönlichen Sicht – allenfalls eine Entkoppelung, also der Fünften Schweiz das E-Voting zu ermöglichen, ohne es damit gleich für die ganze Schweiz einzuführen. Das schiene mir – nebst der Lösung der noch anstehenden technischen Herausforderungen – ein überlegenswerter Weg.

«Die Fünfte Schweiz stellt auch ein wichtiges politisches Potenzial dar.»

Johannes Matyassy

Immerhin ist das politische Interesse in der Fünften Schweiz gross: Immer mehr lassen sich ins Wahl- und Stimmregister eintragen.

Das dokumentiert ganz klar die Verbundenheit mit der Schweiz – und das grosse Interesse am hiesigen Geschehen. Die Fünfte Schweiz stellt auch ein wichtiges politisches Potenzial dar. Das zeigt sich etwa daran, dass alle grösseren Parteien Interesse an dieser Zielgruppe zeigen. Gerade überbordend ist allerdings die politische Mitwirkung der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer noch nicht. Stimmberechtigt wären 620 000, als Wählerin und Wähler registrieren liessen sich bis jetzt 210 000. Aber: Tendenz steigend.

Wir alle werden älter – und das EDA widmet dem «Altern im Ausland» derzeit sehr viel Aufmerksamkeit. Sie arbeiten offenbar sehr «seniorenfokussiert»?

Nein, denn es gilt das Gesamtbild zu sehen. Wir legen ebenso grossen Wert auf den Einbezug der Jüngeren, etwa dann, wenn sie volljährig werden oder indem wir ihnen die Schweizer Kultur und damit einen Bezug zur Schweiz vermitteln. Wenn wir uns gegenwärtig im Projekt «Aging abroad» stark um Seniorinnen und Senioren kümmern, dann hat das seine Gründe. Zum einen nimmt in etlichen Ländern die Zahl unserer über 65-Jährigen stetig zu; die Leute werden älter. Zum anderen sehen wir die wachsende Zahl jener, die nach der Pensionierung auswandern; die Leute werden mobiler. Damit erhalten aber auch neue Fragestellungen Gewicht.

Zum Beispiel?

Eine Frage, die an Bedeutung gewinnt, ist etwa: Was tun alternde Auslandschweizerinnen und -schweizer mit der Erfahrung, plötzlich alleine zu sein? Oder Betagte, die dement werden? Oder Menschen im Alter, die sich nie um eine Patientenverfügung gekümmert haben? Solches fordert auch die Schweizer Vertretungen heraus. Wenn wir das «Aging abroad» – das «Altern im Ausland» – so bewusst thematisieren, dann stehen einerseits jene im Fokus, die die Absicht haben, auszuwandern. Hier steht die Prävention im Vordergrund: Sie sollen sich vorbereiten und mit der Frage befassen, was Älterwerden im Ausland bedeutet. Andererseits richten wir uns an jene, die bereits im Ausland leben, älter werden – und dort in Rente gehen. Da geht es eher um Dienstleistungen, die nötig werden könnten. Etwa, wie bereits erwähnt, wenn jemand dement wird. Ein schwieriges Feld voller schwieriger Fragen.

Vereinfacht gesagt: «Aging abroad» ist eine Sensibilisierungskampagne?

Absolut. Letztlich sensibilisieren wir fürs Thema Selbstverantwortung, hier bezogen aufs eigene Altern.

«Die tauglichen Antworten auf viele Fragen sind innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu finden.»

Johannes Matyassy

Wer sensibilisieren will, muss die bunte, vielsprachige und über den Globus verteilte Gemeinschaft überhaupt erreichen können ...

Da profitieren wir von unserem guten Vertretungsnetz – unseren Botschaften, Konsulaten und Honorarkonsulen. Sie sind wichtige Multiplikatoren. Zusätzlich lancieren wir gerade die App «SwissInTouch», die Bundespräsident Ignazio Cassis am Auslandschweizer-Kongress 2022 angekündigt hat.

Eine weitere App wozu genau?

Die App wird den Auslandschweizerinnen und -schweizern helfen, untereinander Erfahrungen und Lösungsansätze auszutauschen. Die tauglichen Antworten auf viele Fragen sind nämlich innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu finden. Verbessert wird auch die Vernetzung zwischen den Vertretungen und den Auslandschweizergemeinschaften.

Nicht allen liegt das Vernetzen. Die Erwartung, es sei an der Schweiz selbst, die offenen Fragen zu beantworten, ist zuweilen gross?

Bei unseren Besuchen im Ausland lernen wir ganz gegensätzliche Mentalitäten kennen. Viele Auslandschweizerinnen und -schweizer, die wir direkt kennenlernen, meistern ihren Alltag sehr souverän. Ab und zu werden wir aber tatsächlich mit grossen – zu grossen – Erwartungen konfrontiert. Das klingt dann etwa so: «Die Schweiz muss doch für mich sorgen, denn ich habe ja über Jahrzehnte in der Schweiz Steuern bezahlt.» Bei diesen Gelegenheiten lege ich jeweils dar, was das Auslandschweizergesetz sinngemäss sagt. Nämlich: Probiere, dir zuerst selbst zu helfen! Erst wenn dies nicht gelingt, ist die Schweiz da, mit einer ganzen Palette an klar definierten Dienstleistungen.

Foto Danielle Liniger

Sie gehen Anfang 2023 in Pension. Was dominiert Ihre Bilanz als Botschafter und Vorsteher der Konsularischen Direktion?

Hinter mir liegt eine superspannende Zeit. Im Mittelpunkt der Arbeit der Konsularischen Direktion stehen immer Menschen und ihre persönlichen Schicksale. Das hat mich sehr beeindruckt und fasziniert, insbesondere das Lösen der zahlreichen «schwierigen Fälle». – In meinen früheren Funktionen stand meist die Politik im Zentrum. Hier war es stets der Mensch, das Persönliche, das menschliche Schicksal.

Die sehr simple Schlussfrage: Werden Sie für sich selbst das Konzept «Aging abroad» austesten?

(lacht) Nein, ich bin fest entschlossen, das Konzept «Aging in Muri bei Bern» umzusetzen.

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