Menu
stage img
  • Kultur

Dirigenten, in der Schweiz geboren, in der Welt gefeiert

14.07.2017 – Christian Berzins

Die grossen Schweizer Orchester werden vor allem von Franzosen, Briten oder Italienern dirigiert. Drei aktuelle Schweizer Dirigenten kennt dennoch die ganze Welt: Charles Dutoit, Philippe Jordan und Lorenzo Viotti.

Wenn das beste Orchester der Schweiz, das Tonhalle-Orchester Zürich, in diesen Monaten einen neuen Chefdirigenten sucht, ist die Frage, ob der Kandidat denn ein Schweizer sein sollte, offenbar nicht von Belang. Ersetzt wird ein Franzose. Und drüben im Opernhaus Zürich steht ein Italiener als Chefdirigent am Pult. In Basel, im Aargau und in Genf sind es Briten, in St. Gallen ein Holländer, in Lugano ein Deutscher, in Luzern ein Amerikaner und ein Italiener. Allein beim Orchester Biel/Solothurn und in Bern besetzen Schweizer diese Chefposten.

Gibt es so wenige Schweizer Dirigenten – oder erhalten sie keine Chance? Grund zur Tristesse? Gemach. Der rasche Überblick im Inland täuscht. Denn wer dirigiert in der ganzen Welt die besten Orchester und hat ein zweitklassiges zu Weltruhm geführt? Der 81-jährige Schweizer Charles Dutoit. Wer ist Chefdirigent der Pariser Oper und hat mit den Wiener Symphonikern ein Standbein in der Musikweltstadt? Der 43-jährige Schweizer Philippe Jordan. Und wer steigt so steil wie kaum ein anderer die Dirigentenleiter hoch und baut sein Wissen über Orchester klug aus? Der 27-jährige Schweizer Lorenzo Viotti.

Unschweizerische Selbstsicherheit

Ist es unschweizerisch, dass der in Lausanne geborene Lorenzo Viotti seine Selbstsicherheit, das Wissen um die eigene Kunst, dem Gegenüber in jedem Moment zu verstehen gibt? Erstaunlich und ungewöhnlich ist jedenfalls, dass bei Viotti zum Wissen über die eigenen Stärken eine fast masochistische Selbstkritik kommt. Gegen Kritik von aussen allerdings sichert sich Viotti ab, unternimmt alles, damit die Orchestermusiker merken, wie wichtig sie ihm sind. Der Rest, so ist er überzeugt, komme von selbst.

Dieser Musikfantast studierte in Wien Perkussion, da er hinten bei den Pauken im Orchester sitzen und die Psychologie der Musiker analysieren wollte. Er studierte Gesang, weil er spüren und begreifen wollte, was ein Sänger in der Oper braucht. Er sang im Chor, um zu verstehen, wie Sänger atmen. Und immer wieder sass er stundenlang in Orchesterproben der grossen Meister, bei Georges Prêtre oder Mariss Jansons, dachte mit und war nach drei Stunden genauso erschöpft wie der «echte» Maestro vorne am Pult. Wenn er dereinst vor deren Top-Orchestern stehen wird, wird er keine Angst haben: «Das Podium ist die einzige Position, in der ich mich wirklich zuhause fühle. Natürlich bin ich von der ersten Note an elektrisiert, aber das ist nicht Angst, sondern Ungeduld. Ich will dann endlich die Augen der Musiker sehen – und loslassen», sagt er. «Das ist der schönste Moment, den es in meinem Leben gibt.»

Dem Rampenlicht ist Lorenzo Viotti seit seinem Gewinn des «Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award» im Sommer 2015 sehr oft ausgeliefert. Darauf muss ein junger Dirigent erst einmal vorbereitet sein. Doch Viotti kennt das Geschäft. Sein Vater war der berühmte Dirigent Marcello Viotti. Die Mutter war es, die dauernd sagte: «Lorenzo wird Dirigent.» Der Vater war skeptischer, hatte Angst, dass sein eigener Schatten zu gross und dunkel für den Sohn sein könnte. Heute kann Lorenzo glücklicherweise sagen, dass er zu jung war, um seinen Vater zu kopieren. An den Vater als Dirigenten möchte er sich am liebsten gar nicht erinnern. Viel mehr prägten ihn andere dirigierende Überväter.

Angst vor dem Sohnsein

Der bald 43-jährige Schweizer Dirigent Philippe Jordan erlebte eine ähnliche Situation. Gewiss war er zuerst Assistent beim Vater Armin Jordan, dann aber löste er sich rasch von ihm. Zudem mied er Zürich lange Zeit, wollte dort nicht der «kleine Jordan» sein, wollte nicht, dass es hiess: «Der Sohn von Armin!». Dafür lehnte er sogar die prestigeträchtige Chefdirigentenposition am Opernhaus Zürich ab, die ihm Intendant Alexander Pereira einst anbot. «Es war mir sehr wichtig, meinen eigenen Weg zu gehen. Dafür war die Schweiz zu klein und mein Vater zu präsent», so Jordan. Jetzt macht er ab und zu einen Ausflug nach Zürich zum Tonhalle-Orchester. Doch wer in den Metropolen Paris und Wien je eine Chefdirigentenposition belegt, bei den Top-Ten-Orchestern der Welt gastiert, braucht seine Heimatstadt nicht mehr zwingend.

Damals in Zürich, als er sich als Gymnasiast in die Schlange der LegiBesucher vor der Opernhauskasse stellte, fiel er auf, weil er so reif aussah und ernst wirkte. Er trug schon im Alter von 16 Jahren karierte Jacketts wie damals 80-jährige Kapellmeister. Kaum das Studium hinter sich, begann Jordan tatsächlich eine Opern-Kapellmeisterausbildung, wie sie wohl kein anderer geniessen (oder erleiden) durfte. Das hatte nichts mit den Karrieren von Überfliegern zu tun, die sich via CD-Produktionen und Marketing-Abteilungen in die Höhe schiessen lassen. Der Vater liess ihn nicht einfach dirigieren, sondern war der Meinung, der Sohn müsse wissen, wie das von Grund auf gehe: wissen, wie es ist, acht Wochen bei Opernproben am Klavier zu sitzen; wissen, ob man Mozarts «Don Giovanni» noch liebt, wenn man mit den Sängern hundertmal dieselben Stellen durchgegangen ist.

Spricht man ihn auf sein damaliges Mentoren-Trio Jeffrey Tate, Daniel Barenboim und den Vater an, korrigiert er gleich, dass es vier gewesen seien: «Mein wichtigster Mentor waren die Wiener Philharmoniker.» Typisch für Jordan: Nur wer sich in der Praxis fordert, kann gewinnen. In seinen Worten: «Alles liegt in der Arbeit mit diesem teils unzähmbaren Tier, dem Orchester.» Wie probe ich gut mit den Besten, wie hole ich aus ihnen heraus, was ich will? Was fordert man von ihnen, damit sie geben? Das fragte er sich immer wieder. Der Lehrgang dauerte mehrere Jahre. Jordan sah in dieser Arbeit einen Teil seiner Ausbildung, andere Jungstars erkannten darin bereits ein Ziel.

Auch Lorenzo Viotti hat keine Furcht vor den grossen Orchestern, aber noch ist er bei kleineren Klangkörpern am Lernen. Er betont in stolzer Abgeklärtheit, dass er alle Zeit der Welt habe, Karriere zu machen. «Die Leute respektieren das oder nicht – es ist mein Leben. Man kann mit 25 nicht die Münchner Philharmoniker dirigieren. Das ist eine Falle, es ist psychologisch schlecht – und künstlerisch noch schlechter. Wenn einer mit 25 Jahren gar vor den Wiener Philharmonikern steht oder mit 30 alle Mahler-Sinfonien aufnimmt, was macht er mit 50? Was mit 70? Wo finde ich dann die Kraft und die Neugierde?» So lehnte er auch schon illustre Angebote ab, dirigiert dafür in Lausanne, Jena oder Nizza – um dann zwischenzeitlich doch den Verlockungen der ganz grossen Orchester zu erliegen und das Concertgebouw in Amsterdam zu leiten. Wer würde auf die Ferrari-Fahrt verzichten, wenn er doch schon genau weiss, wie das Gefährt zu bedienen ist?

Schweizer Kosmopolit

Charles Dutoit hat wiederum alles, was Viotti bevorsteht, schon hinter sich – und doch zieht er mit Wissen und Charme nach wie vor jedes Orchester und jedes Publikum in den Bann. Seine Nonchalance steckt an: Durch die Abgründe grosser Sinfonien gewandert, dreht er sich bisweilen beim letzten Takt schon schwungvoll zum Publikum, winkt ab – und sagt mit der Geste: «Seht ihr, so einfach ist das.»

1936 wurde Dutoit in Lausanne geboren. Auf seinem Weg arbeitete er bis 1973 in Bern und Zürich, danach aber öffnete sich ihm die Welt – und er sich ihr. 1977 wurde er Musikdirektor in Montreal, führte das vormals zweitrangige Orchester zu Weltruhm, war gleichzeitig Chefdirigent von drei Top-Orchestern, nahm Dutzende Schallplatten auf, jene mit Musik von Berlioz oder Debussy sind teilweise bis heute Referenzaufnahmen. London, Paris und Tokio hiessen seine weiteren Stationen: ein Kosmopolit, der sogar japanisch spricht.

Falls das Zürcher Tonhalle-Orchester, so viel Spekulation sei erlaubt, einen aus diesem Trio zum neuen Chefdirigenten auswählen müsste, würde es wohl Dutoit nehmen. Gegen ihn spricht bloss das Alter. Wer ihn aber im weissen Smoking-Jackett locker aufs Podium tänzeln sieht, wird es schnell vergessen. Dereinst, da werden die Zürcher vielleicht auch sagen: Schade, haben wir 2019 nicht Lorenzo Viotti zum Chefdirigenten gemacht. Die Welt da draussen, die Orchester zwischen Tokio und New York, werden froh darüber sein.

Christian Berzins ist Musikkritiker Bei der «NZZ am Sonntag»

Kommentare

×

Name, Ort und Land sind erforderlich

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Geben Sie eine gültige E-Mail an

Kommentar ist erforderlich!

Sie müssen die Kommentarregeln akzeptieren.

Bitte akzeptieren

* Diese Felder sind erforderlich.

top