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Mit einem «Plop!» ist die Krone ab, das Bier rinnt ins Glas, Bläschen perlen hoch und bilden ein Schäumchen. Was im Bierglas landet, ist nirgends so vielfältig wie in der Schweiz: Das Land weist heute die weltweit grösste Dichte an Bierbrauereien auf. Das ist auch als Antwort auf die grosse Schweizer Bierkrise und den Niedergang vieler Traditionsmarken zu sehen.
Punkto Bier ist der Sitz der schweizerischen Landesregierung ideal gelegen. Wer im Bundeshausrestaurant «Galerie des Alpes» tafelt, sieht nicht nur die Alpenkette, sondern hat auch einen unverbauten Blick auf das Bierbrauereiareal am Fusse des Gurten, der Heimat des urbernischen «Gurten»-Bieres. Trotz dieses Blickkontakts wird es im Bundeshaus aber nicht serviert. Durstige Parlamentarierinnen oder Bundesräte haben die Wahl zwischen anderen lokalen Bieren – aus Burgdorf und Einsiedeln. Die Zeit der Brauerei zum Gurten ist nämlich passée. Das Areal ist heute eine tolle Wohnadresse und Zuhause für innovative Unternehmen. Die 1864 gegründete Brauerei löschte zwar ein gutes Jahrhundert lang den Durst der Bundesstadt. Doch dann geriet das Unternehmen in den Sog wirtschaftlicher Umbrüche. 1970 wurde sie von der Feldschlösschen-Gruppe übernommen, der grössten schweizerischen Brauerei. Diese braut heute ein Bier namens «Gurten» an ihrem Firmensitz im aargauischen Rheinfelden.
Die Geschichte ist exemplarisch. Andernorts spielte sie sich lauter ab als im behäbigen Bern. Für Freiburg etwa war der Niedergang der 1788 entstandenen Brauerei Cardinal eine veritable Staatskrise. Als nach Jahren des Serbelns für Cardinal das Aus kam, war die damalige Freiburger Regierung «schockiert» und Regierungspräsident Beat Vonlanthen war «sehr traurig», weil etwas Eigenes, ein Symbol der eigenen Wirtschaftsgeschichte wegbreche. Cardinal lebt bloss als Name weiter – auf Flaschen aus Rheinfelden.
Die mit den zwei Episoden angedeutete Konzentration des Biermarktes hatte für Schweizer Begriffe vergleichslose Ausmasse. Sie ging im Wesentlichen auf den Zerfall des Schweizer Bierkartells zurück und erfasste schliesslich auch die ganz Grossen. So löschte die Feldschlösschen AG durch zahlreiche Übernahmen regionaler Brauereien zunächst ihren eigenen Durst. Doch im Jahr 2000 wurde Feldschlösschen selber einverleibt, vom dänischen Biermulti Carlsberg. Auf Einkaufstour in der Schweiz war im gleichen Zeitraum auch der holländische Brauereikonzern Heineken. So ist etwa das Bündner Bier «Calanda Bräu» genau genommen holländisch. Teil des Heineken-Imperiums ist auch das Luzerner «Eichhof»-Bier. In Luzern zeigte sich, welche Verteidigungskriege offensichtlich überhaupt nicht taugen: Studenten der ETH Zürich lancierten damals das Computerspiel «The Last Eichhof», bei dem es galt, mit viel Ballerei eine feindliche Übernahme zu verhindern. Genützt hat es nichts. Nur das Lamento über die Globalisierung des Biermarktes wurde etwas lauter.
Heute, eine Generation später, zeigt sich ein völlig anderes Bild. Was durch Schweizer Kehlen rinnt, stammt zwar zu über 60 Prozent aus den von Carlsberg (Feldschlösschen) und Heineken (Eichhof, Calanda) kontrollierten Brauereien. Vis-à-vis der global vernetzten Multis haben sich aber Hunderte kleiner und kleinster Brauereien etabliert. Zählte die Schweiz 1991 gerade erst 31 aktive Brauereien, sind es heute über 900. Kein anderes Land weltweit weist im Verhältnis zur Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner eine grössere Dichte an Brauereien auf. All die Nischenplayer mischen den Markt mit schätzungsweise 5000 verschiedenen Bieren auf.
Es scheint, als schäumten flächendeckend lokalpatriotische Gefühle auf. Solothurn trinkt heute vornehmlich «Öufi»Bier und hält so die als Stadtzahl zelebrierte Zahl elf hoch («öuf» steht für «elf»). Sierre schwört dagegen auf das Bier «La Sierrvoise». Burgdorf hält sich an den Slogan «Bier braucht Heimat» der örtlichen Gasthofbrauerei – und bestätigt diesen trinkenderweise willig. Die kleine Stadt beherbergt inzwischen mit Blackwell gar eine zweite bemerkenswerte Brauerei. Die neuen Bierheimaten erweisen sich als geräumig. Aus lokalen werden mikrolokale Märkte: Jedem Quartier sein Bier.
Adrian Sulc, Wirtschaftsredaktor und langjähriger Beobachter der Entwicklung, rät, das Lokalpatriotische zu relativieren: «Die allermeisten trinken lokales Bier nicht im Sinne einer politischen Haltung, sondern vielmehr aus Sympathie für lokale Brauer.» Prägend sei der allgemeine Trend: «Weil die Globalisierung Konsumgüter aus aller Welt in unsere Supermärkte bringt, sind wir plötzlich wieder an Lebensmitteln von hier interessiert.» Das führe aber nicht nur zu mehr «Bier von hier», sondern zu mehr Gemüse aus der Region, mehr Brot vom Quartierbäcker, mehr Käse von der einheimischen Alp. Aufs Bier bezogen sei höchstens anzufügen: «Den Boom gäbe es wohl auch, wenn das Bierkartell nicht zusammengebrochen wäre.»
Die Szene ist bunt. Sie oszilliert zwischen unprätentiöser Do-it-yourself-Freizeitkultur, bierseligem Klamauk und handwerklichem Traditionsbewusstsein. Beachtlich viele der Klein- und Kleinstbrauereien sind freilich experimentelle Kunsthandwerksbetriebe. Sie komponieren Getränke fernab der standardisierten Industriebiere.
Was treibt die neuen Schweizer Brauer an? Die Schweizer Revue greift die Brauerei Nr. 523 heraus, die unter dem gar kryptischen Namen 523 auf dem Markt agiert. Die erste Antwort auf die Anfrage ist an sich eine Absage: Man sei «leider eher introvertiert und daher nicht optimal für die Presse». Könnte zutreffen. Denn: Die in einer alten Feilenfabrik einquartierte Könizer Brauerei verzichtet auf jede Effekthascherei. Malz und Hopfen sind ihr wichtiger als Marketing und Merchandising, selbst die Etiketten ihrer Biere sind von grösster Schlichtheit. Und obwohl Lokalmedien landauf, landab gerne jede neue Quartierbrauerei mit enormer Plauderlust abfeiern, herrscht punkto 523 auch da Funkstille. Die kleine Crew – Sebastian Imhof, Nadja Otz, Tobias Häberli und Andreas Otz – hängt ihr Tun wahrlich nicht an die grosse Glocke.
Was folgt, ist dann doch ein erhellender Einblick in ein kleines Brauereiuniversum. Auch die 523-Biere werden für einen sehr überschaubaren Markt produziert. Bloss «lokal» zu sein reiche nicht, sagt Andreas Otz. Selbstredend pröble 523 mit regional produziertem Hopfen: «Doch die Welt wäre zu eng, würden wir nur brauchen, was vor der Haustüre wächst.» Otz kennt die Formel von Bier als heimatstiftendem «Antiglobalisierungsgetränk». Wenn die Crew Bier macht, erfahre sie aber «die positiven Seiten der Globalisierung». Hörten sie von einem – lokalen – Farmer in Seattle, der mit neuen Hopfensorten experimentiere, könnten sie direkt mit ihm in Kontakt treten, bei ihm einkaufen und ein Bier brauen und bekanntmachen, «das der neuen Sorte Rechnung trägt». So stärke Globalisierung auch das Lokale.
Die 523-Brauer bedienen sich also auf einem weltumspannenden Basar der Geschmäcker, Gerüche und Sinnesreizungen und folgen «ganz kompromisslos dem Bild, das wir im Kopf haben». Wie etwa lässt sich die Geschmacksnote «von in Portwein karamellisierten Korinten» ins Bier zaubern, in dieses «kleine Universum in der Flasche»? Solche Fragestellungen zeigen, dass sich diese Brauerei nicht primär der Lebensmittelindustrie zuordnet, sondern sich als Expeditionsleiterin im Reich des Geschmacks sieht. Otz: «Uns interessiert das Vermitteln von Erlebnis. Inspiriert gemachtes Bier ist ein kulinarisches Erlebnis.» Platz für Kompromisse gebe es dabei nicht: «Wir haben schon ganze Batches weggeschüttet, weil wir nicht erreichten, was wir uns vorstellten.» Und wenns perfekt gelingt, sei das kein Grund, die Suche nach Neuem einzustellen: «Wir machen Biere für eine Saison. Dann ist es vorbei.»
Der Rockstar der «Neuen Schweizer Biergeschichte» ist zweifellos der alles andere als introvertierte Jérôme Rebetez aus Saignelégier. Als 23-jähriger Önologe schuf er 1997 eine der ersten Kleinbrauereien, die Brasserie des Franches-Montagnes (BFM). Heute ist BFM ein Riese unter den Zwergen. Aber Rebetez braut heute kein bisschen zahmer als damals ein jurassisches Gesamtkunstwerk aus Lebenslust, Kunst, Konzertbetrieb und Bieren mit Kanten und Konturen, die nur eines nicht sein dürfen: beliebig.
BFM exportiert inzwischen einen Viertel seiner Produktion ins Ausland. Die New York Times adelte 2009 sein Bier namens «Abbey de Saint Bon-Chien» als das vielleicht weltbeste Bier. Damit hatte Rebetez eines seiner grossen Ziele erreicht. Angetreten war er nämlich mit dem Anspruch, «ein artisanales, untypisches, eigensinniges Bier zu kreieren, ein Bier mit einem ausgesprochen komplexen Bouquet, welches reich im Gaumen ist und sich mühelos mit den edelsten Weinen messen kann». Das in Eichenfässern gereifte «Abbey de Saint Bon-Chien» spricht diese Sprache.
Wie urteilt Rebetez, der erfolgreiche Pionier der Anfänge, über die vielen Pioniere der Gegenwart? Er sehe eine sich sehr schnell bewegende Szene mit vielen Trägern der neuen Bierkultur: «Aber nur wenige verstehen sich auch als Unternehmer.» Er, der vor Jahren selber gegen «die grosse Langeweile» in der Branche angetreten war, übt milde Kritik: «Manches ist mir zu experimentell.» Wenn ein Bier ein Bier bleiben soll, «dann muss man schon eine ganze Flasche alleine trinken können». Er bleibt Rebell und rebelliert gegen den Innovationszwang: «Vier meiner allerersten Biere sind immer noch unsere gefragtesten. Das macht mich stolz.»
Eine tolle Zukunft räumt er jenen ein, die zu einer eigenen Handschrift fänden. Wer nicht «debil» sei, wolle nämlich eine echte Wahl. Das erfordere echte Produkte aus echten Unternehmen mit echter Geschichte. Die BFM-Leute sind zusätzlich echte Geschichtenerzähler. So ist der auf der Etikette des zelebrierten Edelbiers verewigte «Saint Bon-Chien» – der gute, heilige Hund – überhaupt kein Hund. Rebetez’ verstorbene Brauereikatze hiess so. Auch das Starkbier «Alex le Rouge» ist ein biergewordener Nekrolog – auf den kommunistischen BFM-Brauereimechaniker, der auch nach der Pensionierung bis an sein Ende im Betrieb weiterwerkelte und weitertrank. Die Sprachlust treibt den Jurassier zuweilen an, den Deutschschweizern eins auszuwischen. Nach dem Entscheid, in der Vorweihnachtszeit den Deutschschweizern ein BFM-Bier anzuempfehlen, etikettierte Rebetez die Flaschen mit den Lettern «Die Bier vom Weihnachten». Bilanz: Vier Wörter nur, zwei schreiende Fehler und ein grinsender Brauer in Saignelégier. Auch sein «Highway To Helles» ist eine Neckerei der Deutschschweiz. Dass dort Biertrinker oft «ein Helles» ordern, Bier also nach dessen Farbe bestellen, wundert ihn. Wenn jemand ein neues Auto kauft, sage er ja auch nicht «bitte ein Graues». Wer ihm den Spott nicht verzeiht, muss sich halt an die anderen 900 Brauereien des Landes halten.
Zurück zum kleinen Berg vor den Toren Berns, dem Gurten. Das historische «Bier von hier» gibts wie gesagt schon lange nicht mehr. Doch neulich ging die 523-Crew den über lange Jahre gehegten Plan an, ein Bier nach originalen Rezepturen aus den 1900-Jahren zu brauen – und zwar mit lokaler Hefe, denn es sollte «Terroir verkörpern». Sie legten auf dem Gurten ein Dutzend Gefässe mit Bierwürze aus, um wilde Hefe einzufangen. Der Fang glückte. In drei der zwölf Gefässe fand sich Vielversprechendes und der Entscheid fiel, eine der wilden Hefen weiterzuziehen. Wochen der Recherche nach den alten lokalen Rezepturen folgten, neue Erkenntnisse über die früher üblichen Zutaten sind da. Was daraus werden wird, lässt 523 noch offen. Zumindest liefert in diesem Fall der Schweizer Bierboom aber eine ganz neue Lesart von «oral history».
Die Vielfalt auf dem Schweizer Biermarkt ist auf den Zusammenbruch des Schweizer Bierkartells zurückzuführen. Dieses wurde von einheimischen Brauereien 1935 gegründet: Man legte Verteilungsgebiete fest, beschränkte das Angebot auf wenige Biertypen und wehrte Importe ausländischer Biere ab. Nach dem Austritt von drei grossen Brauereien zerbrach das Kartell 1991. Das Kartell hatte auch zur Folge, dass dem Schweizer Bier die Aura des Gewöhnlichen anhaftete. Nach 1991 war der Markt deshalb offen für Neues: Ausländische Biere eroberten rasch wachsende Marktanteile und die Zahl der einheimischen Brauereien verdreissigfachte sich zwischen 1991 und heute.
Die Zahl der Brauereien steigt. Aber der Bierkonsum sinkt in der Schweiz stetig. Er lag 1990 bei rund 70 Liter pro Einwohner und Jahr. Heute sind es noch gut 54 Liter. Als Ursache für den Rückgang gilt einerseits die 2005 gesenkte Grenze der Blutalkoholwerte für das Autofahren von 0,8 auf 0,5 Promille. Zudem ist ein genereller gesellschaftlicher Wandel feststellbar: Alkohol an der Arbeitsstätte ist heute tabu, das Gesundheitsbewusstsein generell grösser. Zudem treibt der Boom der Kleinbrauereien den Konsum nicht hoch, weil sie ihre Biere als exklusive – und teure – Genussmittel verstehen. Sie kosten rasch einmal 5, 10 oder auch mal über 20 Franken pro Flasche.
Quelle: Eidgenössische Zollverwaltung
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