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Kaum ein anderes Land ist so komplett und exakt vermessen und kartografiert wie die Schweiz. Die akribischen Landeskarten machen das bergige und vielfältige Land fassbar. Die Schattenwürfe auf der typisch schweizerischen Karte zeigen zudem: In der Schweiz scheint immer die Sonne – allerdings aus einer unmöglichen Himmelsrichtung.
Vielleicht gibt es einen simplen Grund für den Umstand, dass die Schweiz schon so lange die Orientierung nicht wirklich verliert: die exakten Landeskarten. Jeder Stein, jede markante Linde, jeder Feldweg, jedes Rinnsal ist erfasst. Gerade jetzt, in den Sommermonaten, wird das derart akribisch erfasste Land wieder zum Elodorado für Wandererinnen und Wanderer. Dass sie alle rote Socken tragen, ist ein tumbes Klischee. Kein Klischee ist aber, dass Wandern in der Schweiz eine der populärsten Freizeitaktivitäten ist. Gemäss der letzten grossen Studie zum Thema wandern 44 Prozent der Nation regelmässig. Kein Klischee ist ferner, dass die Schar auf dem 65 000 Kilometer langen und mit 50 000 Wegweisern markierten Wanderwegnetz der Schweiz unvermindert auf die Landeskarte zählt, sei es auf Papier oder auf Bildschirm.
Gleichzeitig gilt: In der Schweiz unterwegs zu sein, ist des tollen Kartenwerkes wegen eher sicheres Vergnügen als spannungsvolles Abenteuer. Das akkurat kartografierte Land ist kein Flecken Erde, wo man sich leicht im Unbekannten verlieren kann, weil es das Unbekannte so nicht wirklich gibt.
Nicht nur für Wanderwillige ist 2017 übrigens ein Jahr mit besonderer Note. Die Anfänge der Schweizer Kartografiekunst werden in diesem Jahr gewürdigt. Guillaume-Henri Dufour, der sich ab 1838 anschickte, das Land von der Westschweiz her mit Triangulationspunkten zu überspannen und genau zu kartografieren, trägt heuer den Titel «European surveyor of the year» – europäischer Vermesser und Kartograf des Jahres.
Ein Ehrentitel 142 Jahre nach Dufours Tod? Das ist keine zu späte Ehrung. Die grosse zeitliche Distanz verdeutlicht nur, wie hochexakt auch aus heutiger Sicht die ersten Landeskarten der Schweiz waren. Dufour setzte den Massstab sehr früh sehr hoch. Das erklärt den bis heute anhaltenden Weltruf der Schweizer Kartografie.
Apropos Weltruf: An der «Exposition Universelle», der Weltausstellung von 1855 in Paris, stellte die Schweiz Probedrucke von sieben Kartenblättern aus. Viel mehr war vom landesüberspannenden Werk noch nicht wirklich verfügbar. Gleichwohl befand die Jury, hier liege «Wegweisendes» vor. Die Urkunde zur überreichten «Medaille d’Honneur» signierte Napoleon III persönlich. Das Lob aus Paris hatte Gewicht, denn bis dahin hatten vorab die Franzosen selbst den Ruf, die Kartografie zu einer – militärisch nützlichen – Kunstform entwickelt zu haben. Krieg und Kartografie gingen Hand in Hand. Wer siegen will, muss das Terrain kennen. Auch Schweizer Landeskarten befanden sich anfänglich vorab in den Händen von Offizieren. Ganz anders als in anderen Ländern, war die exakte Abbildung der Schweiz aber von Beginn weg kein militärisch-geheimes, sondern ein öffentliches – und ästhetisches – Projekt. Es galt, die Schweiz als etwas Schönes und Ganzes darzustellen.
Zwar gabs noch keine nach Navigationshilfen verlangende Freizeitgesellschaft. Und auch der Volkssport «Landeskenntnis» entfaltete sich in bürgerlichen Stuben und prallvollen Schulzimmern erst im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es war zunächst in erster Linie die politische Elite der Eidgenossenschaft, die sich für die als Republik konzipierte Schweiz mehr Anschaulichkeit wünschte – als Schritt hin zur nationalen Einheit. Die Überlegung: Landeskarten bilden nicht nur Realitäten ab, sondern sie schaffen Realitäten. Sie ermöglichen die Imaginierung des gemeinsamen Raumes. Wie bedeutend das erste Kartenwerk der Schweiz fürs Verblassen von Verschiedenheit und fürs Betonen von Verbindendem war, zeigt sich spätestens beim Blick in den Geldbeutel: Als die ersten Landeskartenblätter gedruckt wurden, verfügte die Schweiz noch nicht einmal über eine einheitliche Währung.
Dufours Karten gaben der Schweiz den klaren Umriss. Das war letztlich sein Beitrag zur Nationenbildung. Fridolin Wicki, der heutige Direktor des Bundesamtes für Landestopografie, Swisstopo, betont gegenüber der Schweizer Revue die politische Bedeutung der frühen Landeskarten: «Im ästhetischen Kartenbild verschwand die Verschiedenartigkeit der einzelnen Kantone zugunsten der nationalen Einheitlichkeit».
Wie begeisterungsfähig die Nation für das Werk ihrer Kartografen war, machte die Landesausstellung von 1883 in Zürich klar. Das aus einzelnen Kartenblättern zusammengesetzte Gesamtbild der Schweiz war eine ihrer Hauptattraktionen. Und der Grundgedanke, dass Karten zur «Vorstellbarkeit» eines Landes führen, hielt sich. Noch 1961, als der Bundesrat die Finanzierung eines Schweizer Atlas beschloss, erklärte er, so werde eine «geistige Waffe schweizerischer Selbstbehauptung» geschaffen. Die Schweiz muss man nicht abbilden, vielmehr entsteht übers Abbilden die Schweiz.
In diesen Geist taucht ein, wer heute das Bundeshaus betritt. Besucherinnen und Besucher stehen in den soliden Hallen des Palais Fédéral nicht als erstes vor Flaggen oder Statuen, sondern vor einer grossen Landeskarte, einem Satz nachgedruckter und zusammengefügter Dufour-Karten. Die Lektion des Exponats: Die moderne Schweiz kennt keine vernachlässigten Randregionen. Von Beginn weg wurde jedes noch so entlegene Tal, jeder noch so kleine Weiler im Hinterland gestochen scharf abgebildet. Kartografie à la Suisse heisst: Niemand wird ausgeblendet, der aufmerksame Blick reicht bis an die Ränder.
Karten sind eine Konstante. Gedruckt, gekauft und genutzt werden sie auch heute, allen elektronischen Hilfsmitteln zum Trotz. Die gedruckte Karte werde sich halten, sagen Fachleute und Berggänger: Ihr sinnlicher, haptischer Reiz und ihre Verlässlichkeit fern jeder Steckdose und fern jedes Antennenmastes ist unbestritten. Konstant ist auch die «Schweizer Manier» des Kartenbildes. Zur «Schweizer Manier» zählen die sehr genaue und plastische Abbildung des Alpenraums, feine und präzise Felszeichnungen, die kunstvolle Betonung des bergigen Reliefs, hervorgehoben durch die sogenannte Schummerung, die Schattenwürfe also, die die abgebildete Bergwelt besonders dreidimensional erscheinen lässt. Schattenwürfe? Wo Schatten fallen, muss auch Sonne sein. Zumindest in der Kartografie gilt: In der Schweiz scheint immer die Sonne. Allerdings aus einer kuriosen Himmelsrichtung. Aufgrund der Schattenwürfe liegt sie im Nordwesten, also dort, wo sie im Jahreslauf nie steht. Der Vorzug der deplazierten Sonne ist aber, dass sie die kartografierte Wirklichkeit besonders plastisch und somit besonders wirklich aussehen lässt.
Nebst der Konstante – den Karten – dominiert bei Swisstopo die fundamentale Umwälzung im Zuge der Digitalisierung. Zwar werden nach wie vor Kartografen beschäftigt. Seit 2010 prägt aber der Aufbau des «Topografischen Landschaftsmodells der Schweiz» den Alltag über alles. Aufgebaut wird ein digitalisiertes, dreidimensionales Landschaftsmodell, das nebst der Landschaft auch sämtliche natürlichen und künstlichen Objekte – etwa Bauten, Verkehrswege, Grenzen – mit sehr hoher Genauigkeit einschliesst und abbildet. Dazu tasten mit Hochleistungsscannern bestückte Vermessungsflugzeuge die Oberfläche des Landes ab.
Der bis dahin gesammelte Berg an Geodaten ist bereits auf ein Mass jenseits des gemeinhin Vorstellbaren angewachsen. Gut 1,8 Petabyte umfasst der Datenbestand. Abgeschlossen ist der Aufbau noch nicht. Die Hoffnung von Swisstopo, dass dereinst viele diese Daten zu nutzen wissen, ist sicher nicht unberechtigt. Eine bereits heute verfügbare Zugriffsmöglichkeit auf Swisstopo-Datensätze, der Online-Kartenviewer unter map.geo.admin.ch, wird beispielsweise täglich von über 50 000 Besucherinnen und Besuchern genutzt.
Zwei Beispiele sollen andeuten, in welche Richtung die «Karte» der Zukunft führt: Weil das topografische Landschaftsmodell jedes Gebäude erfasst, kann es der politischen Entscheidungsfindung dienen. Ist es zulässig, das Städtchen X mit Neubauten zu ergänzen? Das topografische Modell lässt zu, den heutigen Zustand mit zusätzlichen Gebäudekuben zu ergänzen. Das schafft neue, realitätsnahe Bilder für die in der Schweiz intensiv und emotional geführte Debatte über Raumplanung, Verdichtung und Zersiedelung. Das ebenfalls vor der Vollendung stehende dreidimensionale Gebäudemodell von Swisstopo beantwortet die Frage, ob sich angesichts der aufs eigene Hausdach scheinenden Sonne die Nutzung solarer Energie aufdrängt. Bei diesen Modellierungen kann über den ganzen Jahres- und Tagesverlauf gezeigt werden, wohin der Kirchturm im Dorfe seine Schatten wirft – selbstverständlich mit einer Sonne, die im Universum am richtigen Ort steht. Ab 2018 wird dieses sogenannte Solarkataster schweizweit verfügbar sein und womöglich die Debatte über die Energiewende antreiben.
Wenn die Kartografie der Neuzeit – respektive der Aufbau umfassender Geodatensammlungen – zur Grundlage für raumplanerische Prozesse und energietechnische Entscheide wird: Wird sie da nicht ungewollt sehr politisch? «Sie ist längst schon politisch, ohne politisch sein zu wollen», sagt Swisstopo-Sprecher Ruedi Bösch und verweist auf ein anderes Beispiel. Längst schon liefern die permanent nachgeführten Landeskarten Belege für den Klimawandel. Wo frühe Karten ewiges Eis zeigten, zeigen sie heute ewigen Fels. Und die Karten belegen das steigende Tempo der Veränderung. Seit 1950 werden die Anpassungen von einer zur nächsten Kartenauflage grösser und grösser.
Die Digitalisierung erlaubt inzwischen besonders eindrückliche Einblicke in den Wandel. Die Verknüpfung von heutigem und historischem Kartenmaterial ermöglicht neuartige Zeitreisen. Wer sich etwa online nach Verbier in den Walliser Alpen begibt, entdeckt weite, von einer handvoll Bauten überstreute Natur- und Kulturlandschaften (1856), realisiert die Epoche der Erschliessung mit den sich den Berghang hinaufziehenden Serpentinen (1933), entdeckt die ersten die Gipfel erobernden Bergbahnen (1963), landet bei der explosionsartigen Zersiedelung (1971) und erkennt, dass der Ort seither weiterwächst (1982) und wächst (1988) und wächst (1995, 2001, 2010). Solche Zeitreisen lassen sich für jeden Ort der Schweiz unternehmen. Karten werden so zu stummen, aber verlässlichen Zeugen des Wandels. Es sind bestechend unbestechliche Zeugen, sagt Bösch, denn «Schweizer Karten zeigen einfach, was ist».
Sie zeigen einfach, was ist? Nicht ausnahmslos. In den Jahren des Kalten Krieges wich die Landestopografie von ihrer Prinzipientreue ab. Sie zeigte plötzlich auf ihren Karten Orte wie die Pulverfabrik Wimmis und andere militärisch sensible Einrichtungen nicht mehr. Doch das Verschweigen dessen, was ist, ist im Land der guten Kartografen schwierig: Das weitläufige Areal der besagten Pulverfabrik war seit ihrer Eröffnung von 1919 bis 1962 auf jeder Kartenausgabe verzeichnet. Und seit 1988 ist die Diskrepanz zwischen Karte und Wirklichkeit wieder beseitigt. Nach 26 Jahren Verschollenheit ist die Fabrik plötzlich wieder da, wo sie immer schon war.
Seither gilt wieder die Losung «Schweizer Karten zeigen einfach, was ist». Ist Swisstopo somit per Definition der ausgeprägt humorfreie Winkel der Bundesverwaltung? Es ist eher der Hort des sehr fein ziselierten Witzes. Wer in der Vergangenheit ganz genau hinschaute, entdeckte mit etwas Glück abstruse Kleinigkeiten. So war 1981 auf der Landeskarte Interlaken an der Flanke des Eigers plötzlich eine weisse Spinne auszumachen. Swisstopo-Kartograf Othmar Wyss hatte die Kühnheit, dieses künstliche Detail einzubauen, in Anlehnung an ein von Bergsteigern gefürchtetes Schneefeld gleichen Namens. Im gleichen Jahr tauchte an der Südflanke des Harders bei Interlaken auch das Gesicht des «Hardermannlis» auf. Wenig später kraxelte unweit des Flüelapasses ein Bergsteiger über einen steilen Bergrücken im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet.
Die Augen rieben sich die besonders Aufmerksamen auch im Jahre 1983. Damals versteckte sich auf der Landeskarte Vallorbe im Sumpfgebiet des Lac de Remoray eine fette Forelle so geschickt vor den Korrektoren, dass sie unentdeckt blieb. Erst 1989, bei der Überarbeitung der Karte, verschwand das von Kartograf Werner Leuenberger geschaffene Tier wieder in den Tiefen des Sees. 2011 schliesslich fand Kartograf Paul Ehrlich, der Spezialist für die Darstellung von Felsformationen, unweit des Aletschgletschers ein nettes Versteck für ein einsames Murmeltier. Das Tier blieb über Jahre unentdeckt. Gerade jetzt wälzt Swisstopo die delikate Frage, ob das Pelztierchen bei der für 2019 geplanten Neuauflage der Karte weiterleben darf – trotz aller Verpflichtung zu grösster Wirklichkeitstreue. Man ist gespannt auf den Entscheid. Fünf solcher Kartografenscherze sind bislang publik geworden. Die Schweizer Kartografiegeschichte steht in ihrem 185. Jahr. Macht zirka 0,03 Scherze pro Jahr. Noch dominieren bei Swisstopo also Nüchternheit und Seriosität.
Kartenausschnitte reproduziert mit Bewilligung von Swisstopo (BA170143)
Dem Genfer Ingenieur Guillaume Henri Dufour (1787 – 1875) wurde 1832 von der Eidgenossenschaft der Auftrag erteilt, die Grundlagen für eine detaillierte Schweizerkarte zu erarbeiten. 1838 eröffnete Dufour in Genf das «Eidgenössische Topographische Bureau». Das direkt daraus hervorgegangene Bundesamt für Landestopografie, Swisstopo, ist somit das älteste Bundesamt der Schweiz, älter als der 1848 geschaffene moderne Bundesstaat. Zwischen 1845 und 1865 wurden die einzelnen Blätter der «Topographischen Karte der Schweiz» im Massstab 1:100 000 publiziert. Diese «Dufour-Karten» waren das erste amtliche Kartenwerk, welches die Schweiz ganz abdeckte. Dufours Nachfolger Hermann Siegfried (1819 – 1879) entwickelte den Stil schweizerischer Karten weiter und perfektionierte ihn: Höhenkurven, hervorragende Felszeichnungen und die schräg einfallende Beleuchtung prägten die «Siegfried-Karten».
www.swisstopo.ch; www.tiny.cc/Zeitreise; www.atlasderschweiz.ch
Kommentare
Kommentare :
Schade, als geborene Engadinerin bin ich enttäuscht zu lesen dass in einem Artikel über Geographie der Schweiz, der Flüelapass im 'schweizerisch-italienischen" Grenzgebiet enden soll. Aufklärung; der Flüelapass ist ein Bündnerpass von Davos nach Susch im Unterengadin. Danke
(Such cartographic jokes transcend national boundaries; the UK's Ordnance Survey has a few as well.)