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Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels in diesem Jahr ist nur eine Etappe in der helvetischen Tunneleuphorie: Verkehrswege werden in der Schweiz systematisch unter den Boden verlegt.
Die Geschichte ist surreal: Ein junger Mann sitzt in einem Zug, der ungewöhnlich lange durch einen kurzen Tunnel rast – immer schneller und schneller in den dunklen Abgrund. Die beklemmende Geschichte von Friedrich Dürrenmatt mit dem Titel «Der Tunnel» könnte man mit etwas interpretatorischer Lockerheit als beinahe prophetisch bezeichnen. Der Tunnel bei Burgdorf, der dem Dichter für seine Geschichte von 1952 als Vorlage diente, war der einzige nennenswerte Durchstich auf der damaligen Bahnstrecke Bern–Olten. Heute dagegen reiht sich Tunnel an Tunnel – allerdings rast man nicht dem Abgrund, sondern der helvetischen Bahnzukunft entgegen.
Denn längst bohrt man Tunnels nicht mehr nur aus topografischen Gründen und in den Alpen, sondern auch im relativ flachen Mittelland – aus Gründen der Zeitersparnis, und weil oberirdisch immer weniger Platz vorhanden ist. Das Paradebeispiel ist eben gerade die 2004 vollendete Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnstrecke zwischen Mattstetten bei Bern und Rothrist bei Olten. Damit konnten die Fahrzeiten zwischen den wichtigsten Knotenpunkten Zürich, Bern und Basel unter eine Stunde gedrückt werden.
Eines der spektakulärsten Kapitel schweizerischer Eisenbahngeschichte wird dieses Jahr mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels geschrieben. Der Tunnel wird zwar offiziell erst mit dem Fahrplanwechsel vom 11. Dezember 2016 in Betrieb genommen, doch europäische und schweizerische Spitzenpolitiker haben den Weltrekord-Eisenbahntunnel bereits am 1. Juni 2016 gefeiert. Mit dabei am schon beinahe gigantischen Staatsakt waren nicht nur der Gesamtbundesrat und das Parlament, sondern auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Staatspräsident François Hollande und Ministerpräsident Matteo Renzi sowie rund 300 Medienschaffende aus aller Welt.
Mit dem Gotthard steht dabei einmal mehr jenes Gebirge im Rampenlicht, das wie kein zweites in der Schweiz symbolisch aufgeladen ist. Es hat das nationale Selbstverständnis in unterschiedlichster Weise geprägt: Geschichte und Geschichten rund um den Gotthard sind zu einem Staatsmythos geworden, zu einem kollektiven Bezugspunkt. Nicht nur Literaten und Denker haben sich mit ihm beschäftigt, auch Politiker, Militärstrategen – und vor allem Ingenieure. Die Schweizer Tunnelgeschichte begann denn auch am Gotthard: Der Tessiner Baumeister Pietro Morettini sprengte 1707 bis 1708 das 64 Meter lange Urnerloch aus einem Felsen der Schöllenenschlucht, den ersten Strassentunnel der Alpen.
Nirgends verdichtet sich das Doppelgesicht helvetischen Selbstverständnisses eindrücklicher als am Gotthard: Abwehrhaltung und Offenheit. Der Gotthard als Herz des Réduits beherbergte bis vor wenigen Jahren die mächtigsten militärischen Festungsanlagen der Alpen. Und er war gleichzeitig immer eine der wichtigsten europäischen Nord-Süd-Verbindungen. Die Gotthardbahn mit dem Tunnel von 1882 «prägte die Rolle der Schweiz und ihr Selbstbild enorm. Kein anderes Bauwerk veränderte das Land derart – aussenpolitisch, wirtschaftlich, innenpolitisch, mental», schreibt Helmut Stalder, Autor des neuen Buches «Gotthard – der Pass und sein Mythos». Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt wiederum hält im Buch «Das Kalb vor der Gotthardpost» fest: «Es ist von einer verblüffenden Logik, wenn die stärkste nationale Symbolkraft heute vom neuen Eisenbahntunnel durch den Gotthard ausgeht. In diesem technischen Spitzenwerk verschmelzen wieder einmal Ursprung und Fortschritt, und sie setzen auch diesmal mächtige Gefühle frei.»
Der Gotthard-Basistunnel bildet ein zentrales Element der schweizerischen Verkehrspolitik: Er soll den Verkehr von der Strasse auf die Schiene verlegen – namentlich den Güter- und Personenverkehr durch die Alpen. In mehreren Abstimmungen hat sich das Volk für diese Politik ausgesprochen. Doch ob diese Verlagerungspolitik ökologisch tatsächlich etwas bringt, ist umstritten. Gemäss einer Studie unter Federführung des Bundesamtes für Raumentwicklung wird der neue Alpentunnel die Strasse kaum entlasten, dafür Neuverkehr auf der Schiene erzeugen, wie die Zeitung «Der Bund» schreibt. Bereits nach Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels 2007 war der Zuwachs der Bahnreisenden nicht Umlagerungen zu verdanken, sondern neu generiertem Verkehr, vor allem wegen deutlich kürzeren Reisezeiten. Dies gelte im Fall des Gotthards «wohl umso mehr, als mit dem geplanten Bau des zweiten Gotthard-Strassentunnels die Strecke ins Tessin und retour attraktiver wird – selbst dann, wenn beide Strassentunnel, wie heute geplant, nur je einspurig befahren werden dürfen», so der «Bund».
Kritische Einwände wurden auch vor der Abstimmung vom 28. Februar zur zweiten Gotthard-Strassenröhre vorgebracht. Doch sie überzeugten die Stimmenden nicht. Die Vorlage wurde mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 57 Prozent gutgeheissen. Dieses Resultat unterstreicht unter anderem die Tatsache, dass der Gotthard-Basistunnel nicht den Endpunkt einer Entwicklung darstellt. Ganz im Gegenteil: Der Tunnelbau liegt voll im Trend.
Bereits vor der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels sind drei weitere spektakuläre Tunnelprojekte angekündigt worden. Aus Wirtschaftskreisen stammt die Idee einer unbemannten unterirdischen Warenbahn: Das Projekt Cargo Sous Terrain (CST) versteht sich als automatisiertes Gesamtlogistiksystem. Damit soll das Strassen- und Schienennetz an besonders kritischen Punkten entlastet werden: «Eine erste Teilstrecke im zentralen schweizerischen Mittelland kann ab 2030 den Raum Härkingen/Niederbipp mit der Zürcher City verbinden. Später ist ein Gesamtnetz zwischen Boden- und Genfersee mit Ablegern nach Basel und Luzern geplant», heisst es auf der CST-Homepage. Eher etwas ins Abseits gedrängt worden ist dagegen ein älteres Projekt namens Swissmetro, eine unterirdische Magnetschwebebahn, die die wichtigsten Zentren des Mittellandes hätte vernetzen sollen.
Einen Leckerbissen für Touristiker hält ein Komitee der Kantone Bern und Wallis bereit: Es präsentierte jüngst eine Machbarkeitsstudie für eine Grimselbahn. Ein Bahntunnel zwischen Meiringen und Oberwald soll die Schmalspurlinien der Zentralbahn und der Matterhorn-Gotthard-Bahn miteinander verbinden und die Tourismusdestinationen der Kantone Bern, Wallis, Uri und Graubünden noch besser erschliessen. Damit entstünde im zentralen Alpenraum ein Schmalspurbahnnetz von 850 Kilometern – ein Weltrekord. Mit an Bord ist auch die Schweizer Stromnetzbetreiberin Swissgrid, die bestehende Stromleitungen auf der Grimsel in den Tunnel-Untergrund verlegen könnte.
Auch am Lötschberg tut sich wieder etwas. Dort wartet neben dem Basistunnel eine zweite, 14 Kilometer lange, ungenutzte Röhre auf ihre Vollendung. Ob es je so weit kommen wird, ist aber unsicher. Immerhin steht der Lötschberg-Vollausbau weit vorne auf der Liste von Projekten, welche die vor zwei Jahren vom Volk angenommene Bahnfinanzierungsvorlage «Fabi» vorsieht. Jedenfalls hat die Bahngesellschaft BLS nun öffentlich Planungsarbeiten ausgeschrieben.
Nun ist der helvetische Tunnelboom kein neues Phänomen, auch wenn er in jüngster Zeit besonders spektakuläre Resultate zeitigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, ab 1950, ging es bereits richtig los. Zuerst waren es vor allem Röhren für Wasserstollen der Kraftwerke, ab 1980 hatte der Autotunnelbau Konjunktur und dann ab 2000 in erster Linie der Bahntunnelbau. Mehr als je ein Zehntel des Schweizer Bahn- und Nationalstrassennetzes verlaufen in Tunnels, ebenfalls ein Weltrekord. Rund 50 Eisenbahntunnel und rund 55 Strassentunnel sind über 2000 Meter lang. Und es werden mehr und mehr unterirdische Kilometer. Eine der spektakulärsten Baustellen befindet sich derzeit im Kanton Graubünden. Die Rhätische Bahn bohrt parallel zum knapp sechs Kilometer langen Albulatunnel eine zweite Röhre. Das 345 Millionen Franken teure Projekt soll bis 2022 beendet sein.
Aber eben: Gebohrt wird nicht nur in den Alpen, sondern vor allem auch im Mittelland. Im vergangenen März hat das Bundesamt für Verkehr einen wichtigen Vorentscheid für den dereinst zweitlängsten Bahntunnel der Schweiz gefällt: Ein 30 Kilometer langer Tunnel zwischen Zürich und Rupperswil soll den grössten Engpass auf dem schweizerischen Schienennetz, Aarau–Zürich, entlasten. Auf der Wunschliste allein im Grossraum Zürich stehen auch der Brüttenertunnel zwischen Bassersdorf und Winterthur und ein zweiter Zimmerbergtunnel zwischen Zürich und Zug.
Einer Zusammenstellung der «Berner Zeitung» ist zu entnehmen, dass beim Autobahnausbau – ausser dem Axentunnel – vor allem unterirdische Teilstücke bei Stadtautobahnen geplant sind: eine dritte Röhre des Gubristtunnels auf der Nordumfahrung Zürichs, ein Rheintunnel in Basel, der Bypass Luzern, eine dritte Röhre des St. Galler Rosenbergtunnels, gleich vier Tunnel bei der Westumfahrung Biels und eine Tieferlegung des Stadtberner Abschnitts Wankdorf–Muri.
Ganze Tunnelsysteme entstehen auch rund um die Bahnhöfe der gros- sen Städte. Im Dezember 2015 wurde ein weiterer grosser Tiefbahnhof in Zürich in Betrieb genommen, der vor allem dem Ost-West-Fernverkehr dient. Der Druck der Pendlerströme aus der Agglomeration, also von Winterthur, Zug und Aarau her, wird zu weiteren Tunnels Richtung Zürich Hauptbahnhof führen. In Zürich-Stadelhofen, Basel, Bern, Genf und Luzern sind weitere Tiefbahnhöfe geplant.
Sind die Schweizer also ein Volk von Tunnelbauern? Nicht wirklich. Denn die schweren Arbeiten werden meist von Ausländern erledigt. Das war schon immer so, schon beim ersten, 1882 eröffneten Gotthard-Eisenbahntunnel. Tunnelbau ist, trotz des technischen Fortschritts, auch heute noch harte Arbeit unter häufig schwierigen Bedingungen. Am Gotthard-Basistunnel starben während der 17-jährigen Bauzeit neun Arbeiter. Ungleich mehr waren es beim ersten Gotthardtunnel: Damals kamen während der zehnjährigen Bauzeit 199 Arbeiter ums Leben. Auch die Lebensumstände der Tunnelarbeiter waren damals wenig erfreulich. 1875 kam es zu einem Streik. Eine überforderte Urner Miliz schoss während des Arbeitskampfs in die Menge, tötete vier Arbeiter und verletzte mehrere schwer. Zwei eidgenössische Kommissionen prüften die Lebensbedingungen der Tunnelarbeiter. Ein inspizierender Arzt nahm kein Blatt vor den Mund: «Das Elend in den für die Arbeiter hergerichteten Quartieren übersteigt in der Tat alle Begriffe. In kleinen dumpfen Zimmern reiht sich Bett an Bett – elende, halb faule Strohsäcke.» In der Erfolgsgeschichte des Schweizer Tunnelbaus gab es in der Vergangenheit also auch ein paar dunkle Kapitel.
Am neuen Gotthard-Basistunnel ist fast alles gigantisch. Mit über 12 Milliarden Franken ist das Loch zwischen dem Nordportal in Erstfeld (Uri) und dem Südportal in Bodio (Tessin) das bisher teuerste einzelne Bauwerk der Schweiz. Die Kosten der gesamten «Neuen Eisenbahn-Alpentransversale» (NEAT) mit Lötschberg-, Gotthard- und Ceneri-Basistunnel belaufen sich auf gut 23 Milliarden Franken.
Gleich mehrfach wurden am Gotthard verkehrstechnische Weltrekorde aufgestellt: Der Gotthard-Bahntunnel von 1882 war mit seinen 15 Kilometern damals der längste der Welt. Auch der 16,9 Kilometer lange Gotthard-Strassentunnel war bei seiner Eröffnung 1980 der weltweit längste Durchstich für den Autoverkehr. Und der 2016 eröffnete Gotthard-Basistunnel ist mit seinen 57 Kilometern erneut der global längste Eisenbahntunnel. Mit einer Felsüberlagerung von bis zu 2300 Metern ist er zudem der am tiefsten unter Tag liegende Tunnel der Welt.
Kommentare
Kommentare :
Eine technische Errungenschaft der Superlative, aber auch ein Zeugniss der (politischen) Willenskraft der Bevölkerung die hinter so einem massiven Projekt steht.
ou plutôt
coûté la vie?
Dieser Text ist im obigen Artikel enthalten. Piero Morettini war EIN TESSINER!! Tessin wird nach wie vor als Ausland betrachtet, aber je nachdem welche Interesse dahinter stecken. Schade!!
Die Schweizer Tunnelgeschichte begann denn auch am Gotthard: Der Tessiner Baumeister Pietro Morettini sprengte 1707 bis 1708 das 64 Meter lange Urnerloch aus einem Felsen der Schöllenenschlucht, den ersten Strassentunnel der Alpen.