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Bei den letzten Wahlen vor vier Jahren rückte die Schweiz nach rechts. Wie haben sich die neuen Mehrheitsverhältnisse ausgewirkt? Ein Blick auf die schweizerische Politiklandschaft zu Beginn des Wahljahrs 2019.
Dem Wahlanalytiker der «Schweizer Revue» schwante Böses: «Wir müssen uns auf schwierige Zeiten und heftige Turbulenzen vorbereiten», schrieb er nach den eidgenössischen Wahlen von 2015. Die Konkordanz, also das bewährte Schweizer System der Machtteilung, sei in Frage gestellt.
Was war passiert? Mit fast 30 Prozent hatte die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) einen Rekord geschafft. Noch nie seit Einführung der Proporzwahl im Jahr 1919 erzielte eine Partei bei den Parlamentswahlen einen so hohen Wähleranteil. Auch insgesamt kam es zu einem Rechtsrutsch: Die SVP und die ebenfalls bürgerlichen FDP-Liberalen (Freisinnig-demokratische Partei) sicherten sich zusammen mit rechten Kleinstparteien im Nationalrat eine knappe Mehrheit. Ebenfalls ein Novum in der Schweiz.
Knapp vier Jahre später, ein paar Monate vor den nächsten Wahlen vom kommenden Herbst, lässt sich feststellen: Turbulenzen hat es tatsächlich gegeben, aber die grössten Ausschläge erreichten sie bei weitem nicht in der Schweiz. Verglichen mit Trump-Wahl, Brexit und den Folgen rechtspopulistischer Wahlsiege etwa für das Parteiensystem in Deutschland und Italien erwies sich die Schweiz geradezu als Hort der Stabilität – auch wenn die Debatten polarisiert blieben und es bei wichtigen Vorhaben wie der Klärung des Verhältnisses zur Europäischen Union (EU) lange kaum vorwärtsging.
Kurz nach den Wahlen von 2015 wählte das Parlament mit Guy Parmelin einen zweiten SVP-Vertreter in die Landesregierung. Damit waren die vier grössten Parteien wieder angemessen im Bundesrat vertreten (2 SVP, 2 SP, 2 FDP, 1 CVP), die Querelen der vergangenen Jahre um die Bundesratssitze vorerst beendet. Und der Rechtsruck bei den Nationalratswahlen pflügte die politische Landschaft nicht so stark um, wie da und dort erwartet. Der Bürgerblock gewann zwar mehr Abstimmungen im Parlament als zuvor und stellte finanz- und sozialpolitische Weichen. So schützte das Parlament das Bankgeheimnis im Inland und erlaubte niederschwellige Überwachung von Sozialversicherten durch Detektive.
Eher auf Mitte-links-Kurs blieb die Schweiz aber bei der Energiewende: Der Ausstieg aus der Atomenergie ist beschlossene Sache. Zudem verhinderte Uneinigkeit zwischen SVP und FDP den bürgerlichen Schulterschluss. In der Europa-Frage liegen ihre Positionen weit auseinander: Die SVP wäre bereit, die Personenfreizügigkeit mit der EU zu beenden, was der Freisinn wegen möglicher nachteiliger Folgen für die Wirtschaft ablehnt. Zuweilen stoppte auch der Ständerat den nach rechts gerückten Nationalrat, etwa, als dieser weitgehende Sparmassnahmen bei den Ergänzungsleistungen für Betagte und Behinderte beschloss. Im Ständerat sind gemässigte bürgerliche Kräfte der FDP und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) traditionell führend, aktuell können CVP und die Sozialdemokratische Partei (SP) eine Mehrheit bilden.
Besonders die erfolgsgewohnte SVP musste Dämpfer einstecken. Jahrelang hatte sie mit ihren einwanderungs- und europakritischen Initiativen den Nerv der Mehrheit in der Stimmbevölkerung getroffen. 2016 dann die Überraschung: Volk und Stände schickten die sogenannte Durchsetzungsinitiative deutlich bachab. Das SVP-Begehren wollte die vom Volk zuvor bereits gutgeheissene Ausschaffung straffälliger Ausländer noch verschärfen. Eine breite Allianz aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft sah jetzt Grenzen überschritten und mahnte, Gewaltenteilung und Grundrechte zu erhalten.
«Die Abstimmung war eine Zäsur», sagt der Politikwissenschaftler Michael Hermann (siehe Interview). Die Stimmbevölkerung habe «eine gewisse Machtanmassung» der SVP zurückgebunden. Die Wahlsiegerin von 2015 spürte Gegenwind. Bei Abstimmungen stand sie öfter als früher isoliert da. Bei kantonalen Wahlen verlor sie Parlamentssitze. Und wäre letzten Herbst gewählt worden, hätte sie gemäss Wahlbarometer von Schweizer Radio und Fernsehen auch auf nationaler Ebene Terrain verloren, bliebe aber immer noch weitaus stärkste Kraft. Im Gegensatz zur SVP dürfen gemäss Wahlbarometer die FDP, die SP und die Grüne Partei Schweiz (GPS) auf steigende Wählergunst hoffen.
Politik wird in der Schweiz nicht nur von Parteien geprägt, sondern auch von Themen. Vor vier Jahren kam das der SVP zugute, standen doch ihre Kernthemen Flüchtlinge und Zuwanderung zuoberst auf der Sorgenliste der Wählerschaft. Inzwischen beschäftigt anderes die Leute am meisten: die jährlich steigenden Prämien für die obligatorische Krankenversicherung, die Altersvorsorge. Der heisse, trockene Schweizer Sommer 2018 katapultierte zudem die Umwelt wieder unter die dringlichen Wahlthemen. Die Parteien reagieren entsprechend. SP und CVP wollen im Wahljahr mit Volksinitiativen zu den Gesundheitskosten punkten, auch die FDP stellte ein Reformprogramm dazu vor. Die Grünen sprechen von «Klimawahlen» und sehen sich in ihrem ureigenen Thema bestärkt.
Die SP, von der Wählerstärke her zweitgrösste politische Kraft in der Schweiz, befindet sich leicht im Aufwind. Während im angrenzenden Ausland die Sozialdemokraten zum Teil historische Niederlagen erfahren, etwa im deutschen Bundesland Bayern, gewann die SP Schweiz in den Kantonen Parlamentssitze dazu. Sie vermag sich der Wählerschaft als Gegenkraft zum Rechtsruck zu präsentieren, besonders seit mit der Wahl des eher rechtsfreisinnigen FDP-Bundesrats Ignazio Cassis 2017 auch die Landesregierung nach rechts gerückt ist.
Stark nach oben zeigt die Formkurve der Grünen. Sie eroberten in Kantonsparlamenten zusätzliche Mandate und könnten im Herbst gemäss Wahlbarometer gar am meisten Wählerstimmen zulegen. Bereits liebäugeln einige mit einem grünen Sitz im Bundesrat – auf Kosten der CVP.
Denn die CVP, die älteste Kraft in der politischen Mitte, sie verharrt im Formtief. Seit Längerem büsst die Partei auf nationaler Ebene Wähleranteile ein. Unter neuer Führung versucht sie seit drei Jahren, ihre christlich-konservativen Wurzeln zu betonen und eine Wertedebatte im Umgang mit dem Islam anzuführen. Den Abwärtstrend stoppte das bisher nicht, wie das Wahlbarometer und Sitzverluste in kantonalen Parlamenten nahelegen. Dazu kommt die Konkurrenz in der Mitte, wo auch die Bürgerlich-demokratische Partei (BDP) und die Grünliberale Partei (GLP) um Stimmen buhlen. In Kantonsregierungen und im Ständerat ist die CVP allerdings nach wie vor eine Grösse.
Aussichtsreich startet die FDP ins Wahljahr. Die Trendwende, die 2015 begann, hat sich fortgesetzt: keine Partei gewann seither bei kantonalen Wahlen mehr Parlamentssitze dazu als die Freisinnigen. Auch das Wahlbarometer sieht die FDP im Plus. Die Wählerschaft traut ihr gemäss Umfragen zu, zur Lösung wichtiger Themen wie dem Verhältnis zur EU beizutragen. Der FDP scheint es gelungen, sich vom Wirtschaftsfilz-Image zu lösen. Gar keine Freude hat die Parteileitung deshalb an Exekutivpolitikern in der Westschweiz, die im Verdacht stehen, sich Gefälligkeiten bezahlt haben zu lassen (siehe Seite 31).
Neben den verwurzelten Parteien wuchsen in der Schweizer Politlandschaft auch neue Kulturen: aus dem Moment heraus, agil, digital. Auf allen Kanälen schiesst vor bestimmten Urnengängen die Operation Libero gegen die SVP, junge Frauen und Männer, die sich liberal verorten und eine weltoffene Schweiz wollen. Behäbige politische Prozesse werden mitunter beschleunigt. Als der Bundesrat die Kriterien für Waffenexporte in Bürgerkriegsländer lockern wollte, sicherten innert zwei Tagen so viele empörte Bürgerinnen und Bürger online ihre Unterstützung für eine Volksinitiative zu, dass die Regierung ihren Entscheid zurücknahm. Und es kam zum ersten Twitter-Referendum: Drei Privatpersonen lancierten über das soziale Netzwerk eine Unterschriftensammlung gegen die Sozialdetektive. Sehr rasch kam die Gesetzesrevision vors Volk. Referendumsstärke ohne Parteiinfrastruktur und finanzkräftige Organisation im Rücken: Das hatte es vorher in der Schweiz nicht gegeben.
Am 20. Oktober 2019 finden in der Schweiz die Parlamentswahlen statt. Die Wählerinnen und Wähler in der Schweiz und die wahlberechtigten Auslandschweizerinnen und -schweizer bestellen die beiden Parlamentskammern für die nächsten vier Jahre neu: den Nationalrat mit 200 Sitzen, den Ständerat mit 46 Sitzen. Der Nationalrat, die grosse Kammer, vertritt das Volk. Der Ständerat, die kleine Kammer, repräsentiert die Kantone.
Weiterlesen: «Direkte Demokratie baut Spannung ab»
Kommentare
Kommentare :
Danke für Ihre kecke Zuschrift. Ich darf Sie beruhigen: Die "Revue" verfügt über keine Zensurabteilung. Aber die "Revue" beschäftigt auch keine Roboter. Will heissen: Jeder Kommentar wird von der Redaktion gelesen, nötigenfalls formal und orthografisch bearbeitet (damit die automatisierte Übersetzung funktioniert) und dann manuell freigegeben. Und das kann auch mal ein paar Tage dauern, besonders übers Wochenende und während Ferien.
Quo vadis Schweizer Revue? Nun, wir werden uns sicher bemühen, weiterhin unvoreingenommen an die Themen heranzugehen, die die Schweiz bewegen. Und wir sind weiterhin sehr an den Stimmen der Schweizerinnen und Schweizer aus der Ferne interessiert. So gesehen brauchte es unserseits keinen Mut, Ihren Kommentar zu publizieren.
Übrigens: Sie deuten richtigerweise an, dass in der Kommentarspalte keine Diffamierungen und Beleidigungen Platz haben. Genau so ist es. Solche Kommentare halten wir zurück, denn uns liegt an fairer Diskussion.
Letzten Freitag habe ich einen etwas kritischen Beitrag eingesandt
Ich habe nur sachliche Kritik geübt. Niemanden diffamiert und schon gar nicht beleidigt. Aber auch berechtigte Kritik das genügt in Ihren Augen schon, um den Text nicht zu veröffentlichen. Verdammt noch einmal. Wann werden Sie in der Lage sein die Aufgaben einer Redaktion sachlich und korrekt wahrzunehmen? Ich bin überzeugt, Dass Sie nicht einmal den Mut haben auch diesen Text zu veröffentlichen.
Quo vadis "Schweizer Revue"?
verstehe ich wie folgt: Wenn ich, als Unternehmer in meinem Betrieb eine grössere Investition plane haben die direkt Betroffenen ganz sicher ein, wenn auch beschränktes, Mitspracherecht. Selbst wenn sich, wie in unserer Heimat 1,25% der Belegschaft mit meinen Entscheidungen nicht identifizieren können, werde ich keine Zeit mit unnützen Diskussionen verlieren, und die getroffene Entscheidung durch ziehen. Mehr noch, ich wage zu bezweifeln, dass die Schweiz in dieser Form und mit der vorherrschenden Mentalität die Herausforderung der Doktrin China 2025 und den Realitäten der zur Zeit entstehenden Seidenstrasse bewältigen oder überleben wird.
Wenn in einem Staat die Geburtenrate in weniger als 50 Jahren um mehr als 30% zurückgeht, geschieht unweigerlich das Folgende.
Pro Zeiteinheit gehen 100% der arbeitenden Bevölkerung in Pension, jedoch in den Erwerbsprozess eintreten werden nur knapp 60%.
Das ist die einzig logische Schlussfolgerung. Konsequenz: Es fehlen Arbeitskräfte
ERGO EST (daraus folgt): Statt der unsinnigen Masseneinwanderungs-Zwängerei hätte die SVP in den 1980er-Jahren ein Einwanderungsgesetz anschieben sollen. Das hätte dem von dieser Populisten-Partei mit dem Pseudo-Image der staatsbürgerlichen Verantwortung eher entsprochen.
Aber eben, mit Populismus gewinnt man Stimmen, mit staatsbürgerlicher Verantwortung und dummen Sprüchen nicht.