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Plötzlich war das Zuhause der Mittelpunkt unseres Lebens. Rituale des Zusammenlebens und des Konsums wurden auf den Kopf gestellt. Eine der Einsichten: Der Lockdown wurde von den Schweizerinnen und Schweizern je nach sozialer Stellung äusserst unterschiedlich erlebt.
Draussen das Virus, drinnen die Sicherheit. So präsentierte sich die Zeit des Lockdowns, der am 16. März begann und ab dem 11. Mai, als die Schulen wieder öffneten, stetig gelockert wurde. Von heute auf morgen sahen sich die Schweizerinnen und Schweizer gezwungen, sich neue Rituale zu schaffen. Plötzlich musste man sich ans Social Distancing halten, die Hände desinfizieren, eine Maske tragen, an Online-Sitzungen teilnehmen. «Es hat mich einen Monat gekostet, zuhause einen neuen Rhythmus zu finden», erzählt Marie Cénec, eine Pfarrerin aus Genf. «Die Gewohnheiten ruhen zu lassen und die Rituale zu verändern kostet Kraft», betont die Frau des Glaubens, die Mitglieder ihrer Kirchgemeinde per WhatsApp betreut und Gedichte, Gebete und Fürbitten mit Menschen geteilt hat, die angesichts der schlagartigen Veränderungen bekümmert waren und litten.
Die Anthropologin Fanny Parise, die am Institut lémanique de théologie pratique de l’Université de Lausanne forscht, erkannte während des Lockdowns vier Archetypen von Menschen. Sie stützt sich dabei auf eine Umfrage, die von 6000 Personen, je zur Hälfte in der Schweiz und in Frankreich wohnhaft, beantwortet worden ist. Die noch unveröffentlichte Studie zeigt, dass 46 Prozent der Antwortenden ihre Lockdown-Situation als Privileg erlebt haben. Diese Personen konnten online weiterarbeiten oder waren auf Kurzarbeit gesetzt – und somit einkommensmässig weitgehend abgesichert. Demgegenüber gaben 12 Prozent an, ihre psychische Belastung sei gestiegen und ihre Lebensqualität gesunken. Das schlechteste Los zogen die 34 Prozent «Schiffbrüchigen», die ihre Arbeit verloren haben oder ihr Geschäft schliessen mussten.
Fanny Parise vergleicht den Lockdown mit einem Übergangsritus. Sie stellt fest, dass die vertrauten sozialen Rollen und Funktionen umgekrempelt worden sind. «Diesmal hatte der ‹Feind› kein Gesicht, und dasselbe gilt für die Helden. Ganze Berufsgruppen haben diese Funktion übernommen. Die Mitarbeitenden an den Kassen spielten sichtbar die Rolle der unentbehrlichen Zahnräder der Maschinerie, das medizinische Personal diejenige der Retter. Andere Berufe, die normalerweise ganz oben stehen, verloren rasch an Bedeutung, insbesondere im Dienstleistungssektor. Zuvor unter Stress stehende Mitarbeitende hatten plötzlich mehr als genug Zeit.» Marie Cénecs Reaktion: «Ich war über die Ungleichheit der Situationen erstaunt.» Eines zeige sich rückblickend klar: «Je nach Alter, Wohnort, Lebensstandard sowie sozialer und familiärer Situation haben die Menschen den Lockdown komplett unterschiedlich erlebt.»
Menschen im Lockdown, die keinem starken beruflichen oder familiären Stress ausgesetzt waren, empfanden die Zeit als angenehm gedehnt. Sie entdeckten das Dolcefarniente und die Meditation für sich. «Die Decke anzustarren oder aus dem Fenster zu schauen wurde als positiv empfunden, obwohl dies zuvor als Müssiggang galt», sagt Fanny Parise. Diese Gruppe nutzte die neu gewonnene Zeit für Sport und fürs Basteln, Backen oder Kochen. «Ob dies nun die Ernährung oder den Alkohol betrifft: Die Menschen reagierten entweder dionysisch oder asketisch», sagt die Forscherin. Letzteres könnte als Reaktion auf den Überfluss der bisherigen Lebensweise betrachtet werden.
«Gläubige Menschen waren für den Kampf gegen Angst, Einsamkeit und Entbehrung gewappnet», konstatiert die Genfer Pfarrerin. In der anthropologischen Studie bewerteten 46 Prozent der Befragten die Pandemie als eine erste Erscheinung des Zerfalls der Weltordnung. 51 Prozent gaben an, dass sie nach alternativen Erklärungen zu denjenigen der Medien gesucht haben.
«Jeder Bürger wurde zum CoronaVirus-Experten, umso mehr, als die Regierungen selbst die Pandemie auch von Tag zu Tag neu kennenlernen mussten», kommentiert die französische Forscherin. Die Gläubigen konnten die Geschehnisse in eine bereits strukturierte Logik einbinden, «welche das Bestehen von Prüfungen zum Thema hat und innerhalb deren man darauf hoffen kann, Schwierigkeiten zu überwinden und innerlich daran zu wachsen», erklärt Marie Cénec.
Zugleich war die Pandemie Nährboden kühner Theorien. Einige betrachten das 5G-Mobilnetz als ihr Auslöser. Andere sehen in ihr eine Weltverschwörung. Und viele werten die Tierseuche als Konsequenz eines Unrechts, das dem Planeten angetan worden ist. «Die Geschichte der Fledermaus vom Markt in Wuhan, die einen Menschen ansteckt, ist greifbar. Sie übernimmt die Funktion einer Fabel», meint Fanny Parise.
In der striktesten Phase des Lockdowns haben Schweizer Haushalte ihre Nahrungsmittelkäufe erhöht (+18,6 %). Gleiches gilt für Dienstleistungen aus dem Bereich Medien und Kommunikation (+71,2 %) und Ausgaben im Supermarkt (+36,7 %). Auf der anderen Seite halbierten die Schweizerinnen und Schweizer ihre Kleidungskäufe und senkten ihren Benzinverbrauch um 22 %. Die Ausgaben in Restaurants fielen um 53,8 %, Coiffeure mussten zusehen, wie ihre Kundenfrequenz einbrach (-80,8 %). Diese von der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) zitierten Zahlen stammen von Postfinance, welche die Käufe ihrer 2,7 Millionen Kundinnen und Kunden zwischen Mitte März und Mitte April analysiert hat. Der Online-Handel explodierte. Im April gab die Post gegenüber der Tageszeitung «Le Temps» an, dass sie fast 850 000 Pakete pro Tag verarbeite, 40 % mehr als in derselben Vorjahresperiode. Digitec Galaxus, ein Unternehmen der Migros, gab eine annähernde Vervierfachung der Verkäufe von Fitnessgeräten und Gesellschaftsspielen und eine Verdoppelung bei den Erotikartikeln bekannt.
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