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  • Kultur

Wohin des Weges, Nemo?

26.07.2024 – Marko Lehtinen

Mit Nemo hat erstmals überhaupt eine nichtbinäre Person den Eurovision Song Contest gewonnen – und zwar für die Schweiz. Wird Nemo damit nun zur Gallionsfigur der queeren Community in ganz Europa? Und steht Nemo tatsächlich vor einer Weltkarriere, wie es nicht wenige voraussagen?

Alle sprechen über Nemo. Doch Nemo selbst hat sich zurückgezogen. Nur zu gerne würde man ein paar Worte mit Nemo wechseln – mit Nemo, nicht mit ihr oder ihm. Nemo ist nichtbinär, versteht sich also weder als Mann noch als Frau, und benutzt im Deutschen keine Pronomen, sondern eben einfach Nemo. Wie gerne würde man mit Nemo also über den Sieg in Malmö sprechen, über die Konsequenzen für Nemos Karriere und Leben, vor allem aber darüber, was dieser Sieg für die nichtbinären Menschen in Europa bedeutet. Löst der Sieg etwas Substanzielles aus? Wird Nemo gar zu einer Art Greta Thunberg der queeren Bewegung?

Nemo ist derzeit nicht für Interviews zu haben. Das Musiktalent konzentriere sich ganz auf den «weiteren kreativen Prozess und die kommenden Liveshows», verlautet die Plattenfirma Universal Music – und bittet um Verständnis. Man hat vollstes Verständnis. Nach einem solchen Erfolg muss sich ein Shootingstar zuerst einmal sammeln und den Rummel um sich herum verklingen lassen. Nemo tut dies in der vermeintlichen Anonymität der Wahlheimat Berlin. Dorthin hat es das Talent verschlagen, das vor 25 Jahren in Biel als Nemo Mettler zur Welt kam.

Nemo sang und tanzte beim Auftritt am diesjährigen Eurovision Song Contest auf einer sich drehenden Scheibe. Aber auch sonst lief für Nemo in Malmö so ziemlich alles rund. Foto Keystone

Nemo lernte früh Geige, Klavier und Schlagzeug spielen und erhielt schon als Kind eine fundierte Gesangsausbildung. Mit zehn Jahren hatte Nemo in der Kinderoper in Biel den ersten grossen Auftritt – als Papageno in der «Zauberflöte». Nach dem Einstand in der Klassik verschlug es Nemo weiter in die Welt der Musicals. Mit 13 Jahren stand Nemo im Stück «Ich war noch niemals in New York» auf der Bühne und widmete sich der Musik von Udo Jürgens. Das Musiktalent fand seine wahre Identität jedoch im Hip-Hop. Nemo rappte sich – damals vom Publikum noch als Mann gelesen – in die Herzen der Szene, landete unter anderem mit der Single «Du» im Jahr 2017 einen veritablen Hit und wurde mit vier Swiss Music Awards ausgezeichnet. Später beschloss Nemo, der Schweiz den Rücken zu kehren und in eine Grossstadt zu ziehen. Der Befreiungsschlag gelang Nemo in Berlin mit dem Outing als nonbinäre Person ein halbes Jahr vor dem Eurovision Song Contest.

Und nun, wie weiter? Die Medien prophezeiten Nemo nach dem Sieg in Malmö reflexartig eine «Weltkarriere», doch dazu wird es vermutlich nicht kommen. «The Code» war zweifellos ein guter Song. Doch so originell der stilistische Mix aus Drum'n'Bass, Hip-Hop, Pop und Klassik auch war, so eindrücklich Nemos Gesang im Refrain zum Tragen kam und so sehr der autobiographische Text über das Queersein das Publikum berührte – «I went to hell and back, to find myself on track» –, so formelhaft war der Song am Ende auch. Unüberhörbar, dass das Lied in einem sogenannten Songwriting Camp in Zusammenarbeit mit den erfahrenen Hitlieferant:innen Benjamin Alasu, Lasse Nymann und Linda Dale geschrieben und von Beginn weg auf ein passendes Format getrimmt wurde. Ein Lied aus der Feder von Nemo zwar, ein wenig aber auch aus der Retorte. Nichts für die Ewigkeit.

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Gegen eine Weltkarriere spricht auch, dass schon vor Nemo so gut wie keine Song-Contest-Sieger:innen eine weltweite Laufbahn starten konnten. Die wenigen Ausnahmen sind bekannt: Vor 50 Jahren gewannen Abba am damaligen Grand Prix Eurovision de la Chanson für Schweden. 1988 siegte mit Céline Dion ein aufstrebender Weltstar für die Schweiz. Ansonsten landeten die Acts so schnell wieder in der Versenkung wie sie aufgetaucht waren. Karrieren waren höchstens auf nationaler Ebene möglich. Ausserdem war die Wahl der Sieger:innen am Eurovision Song Contest nicht selten vor allem ein politisches oder ein gesellschaftliches Statement – kein musikalisches Urteil, was für eine weitere Karriere essenziell wäre. Israel in den Jahren 1978 und 1979 oder die Ukraine nach dem Einfall Russlands 2022 gewannen nicht, weil sie den jeweils besten Song am Start hatten. Auch Conchita Wursts Sieg für Österreich setzte 2014 vor allem ein Zeichen: Zehn Jahre vor Nemo gewann die Dragqueen, welche die Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung thematisierte. Die Frage ist legitim, ob Nemo den Wettbewerb gewonnen hätte, wenn Nemo ein Mann oder eine Frau gewesen wäre und der Song nicht vom Befreiungsschlag einer nichtbinären Person gehandelt hätte.

Der siegreiche Song ist politisch aufgeladen: Nemo versteht sich als nonbinär. Foto Keystone

Mit der Weltkarriere wird es wohl nichts. Bleibt die Frage, ob Nemo eine tragende Rolle in der queeren Community haben wird. Nemos Sieg in Malmö hat in der Schweiz eine intensive Diskussion über nonbinäre Menschen in der Gesellschaft ausgelöst. Der Shootingstar hat sich seit dem Sieg immer wieder für einen offiziellen dritten Geschlechtseintrag stark gemacht und eine politische Debatte darüber entfacht. Nun ist sogar ein Treffen mit Bundesrat Beat Jans geplant. Und in der «Arena» stritten sich jüngst Politikerinnen und Politiker von links bis rechts über das Thema.

Nur zu gerne wüsste man, ob sich Nemo selbst als neue Identifikationsfigur der queeren Community sieht. Und ob Nemo das überhaupt will – oder sich in Zukunft doch vor allem auf die Musik konzentrieren wird. Die Zeit wird es weisen. Und vielleicht auch mal ein Interview mit Nemo.

Video: www.revue.link/nemo

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